Vor ein paar Monaten bin ich spät am Abend in einer Fernsehsendung hängengeblieben. „Klassik im Club“ im ZDF. Zufällig, es war schon fast Mitternacht, aber ich war noch nicht müde genug, um schlafen zu gehen.

Eine interessante Sendung (eine Aufzeichnung aus Vor-Corona-Zeiten) aus dem „Delphie-Club“ in Berlin, in dem auch Szenen aus „Babylon Berlin“ gedreht worden sind. Ein junges, hippes Großstadtpublikum und als Moderator Jo Schück, der sonst „Aspekte“ macht.

Es gab eine wilde Mischung aus Pop, Klassik und elektronischem Mix, beginnend mit einer Orchester-Remix-Kombination der Musik aus dem Film „Das Boot“, danach Debussy, Gluck, Grieg, vertonte arabische Gedichtkunst, sehr beeindruckend und unterhaltsam. Ich wäre gern dort gewesen, dachte ich zwischendurch.

Am meisten beeindruckt hat mich eine Solo-Pianistin: Alice Sarah Ott. Diese Leidenschaft und Hingabe, diese unglaubliche musikalische Ausdruckskraft! Sie schien mit ihrem ganzen Körper in der Musik aufzugehen. Völlig versunken, eins mit den Kaskaden der Töne, die ihre Finger auf dem Steinway-Flügel erschufen. Emotionen pur, sichtbar, spürbar, hörbar.

Ich kannte sie nicht, deswegen habe ich einen Blick in ihren Wikipedia-Eintrag geworfen: Jahrgang 1988, deutsch japanischer-Abstammung, musikalischer Werdegang usw., das, was man erwartet. Ganz am Ende aber ein Satz, der mir für einen Moment das Herz stocken ließ:

„Im Februar 2019 gab sie über ihren Facebook-Account bekannt, dass sie an multipler Sklerose erkrankt ist.“

Was für eine Tragik verbirgt sich hinter so einem kurzen, einfachen Satz, was für zerbrechende Träume?

Eine hoffnungsvolle Nachwuchspianistin, vielleicht am Beginn einer Weltkarriere, erfährt mit Anfang 30, dass sie an multipler Sklerose erkrankt ist. Wie lebt man damit weiter?

Was macht das mit einem? Fragt man sich jetzt jeden Tag, wenn man sich an den Flügel setzt, ob es heute schlechter ist als gestern? Ob es schwerer fällt, ob die Finger nicht mehr so beweglich sind? Ist es vielleicht nur die falsche Tageszeit? Bin ich verspannt, weil ich gestern zu viel gespielt habe? Oder ist es die Krankheit, von der ich weiß, dass sie immer weiter Besitz von mir ergreifen wird?

Was wird aus den Träumen? Macht man weiter, bis nichts mehr geht? Was ist mit dem eigenen Anspruch?

Wie hält man das aus?

Um auf diesem Niveau Klavier zu spielen, bedarf es jahreslanger Übung, Mühen, Verzicht, Quälerei. Alles umsonst, weil man in naher oder ferner Zukunft ein eingeschränktes Leben im Rollstuhl führen wird? Weil man das, was man liebt, nicht mehr tun kann?

Und selbst wenn die Schübe nicht so oft kommen und nicht so schlimm sind, wie lange kann man die Qualität bringen, die es braucht, um erfolgreich zu sein?

Alles umsonst, vergebens… wie stark muss man sein, um das ertragen zu können? Kann man das überhaupt?

Vielleicht deswegen diese unglaubliche Hingabe und das Versinken in der Musik. Weil sie nicht weiß, wie lange noch.