Casus belli – der Kriegsfall. Mein Textprogramm unterstrichelt das Wort „Kriegsfall“ mit einer gezackten Linie. „Kriegsfall“ ist kein Wort im allgemeinen Sprachgebrauch, das Programm kennt es nicht. Und auch wir, die glückliche Generation, die den Krieg höchstens aus Filmen kennt, die wir vielleicht mit Gruseln, aber eher unbeteiligt sehen, oder aus Dokumentationen und Erzählungen, die mehr Gruseln verursachen, aber trotzdem über Ereignisse berichten, die längst vergangen sind, kannten den Krieg bisher nicht. Höchstens aus anderen Weltgegenden, von Bildern, die wir im Fernsehen sehen, Syrien, Afghanistan, Äthiopien… Wir sind entsetzt, spenden vielleicht Geld, bedauern die Opfer. Aber aus unserem täglichen Erleben war der Krieg seit mehr als 70 Jahren verschwunden. Und kaum jemand konnte sich vorstellen, dass sich daran etwas ändern könnte, die Warnungen des greisenhaften amerikanischen Präsidenten haben wir als Übertreibungen und politisches Getöse abgetan, in unserer Vorstellung überfallen selbst gewissenlose Despoten keine Nachbarstaaten. Wir wollten glauben, dass es nicht so kommen würde, egal wie viel Gerät, wie viele Soldaten Putin zu angeblichen Manövern rund um die Ukraine zusammenziehen ließ. Wir haben ihm abgenommen, dass er die Truppen abzieht, wenn die Übungen beendet sind, waren erleichtert, als er einen Abzug verkündete, der keiner war.
Wladimir Wladimirowitsch Putin, „lupenreiner Demokrat“, lässt seine Armee die Ukraine überfallen.
Seine Begründungen sind fadenscheinig bis unfassbar, reine Propaganda, er spricht von einem „Genozid“ an der russischen Bevölkerung in den Separatistengegenden und von einem Naziregime, das es zu entfernen gelte, spricht der Ukraine ihr Selbstbestimmungsrecht ab.
Die Wahrheit war schon immer das erste Opfer jeden Krieges.
Wir wissen, dass dieses nicht mal besonders kunstvolle Lügengespinst nur einen Vorwand liefern soll für ein „make Russia great again“ (Noch vor wenigen Tagen hat der Despoten-Bewunderer Donald Trump Putin als „schlauen Kerl“ bezeichnet und die Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete „genial“ genannt. Unfassbar!), aber es gibt Umfragen, die besagen, dass 70 % der russischen Bevölkerung die Ukraine-Politik ihres Präsidenten mittragen. Der Fairness halber muss man erwähnen, die die Umfragen nicht ganz aktuell sind, sie wurden vor Beginn des Einmarsches veröffentlicht. Nichtsdestotrotz ist die russische Bevölkerung Opfer einer seit Jahren anhaltenden Desinformations- und Lügenkampagne, die jetzt, so scheint es, ihren wahren Zweck offenbart.
In Zeiten, in denen jeder alles behaupten kann, jeder seine eigene Wahrheit und sein eigenes Weltbild erfinden und unter die Leute bringen kann, genügen unfassbare Lügen dafür, einen völkerrechtswidrigen Einmarsch in ein unabhängiges Land zu rechtfertigen.
Der Westen kann nur fassungslos zuschauen, wenn das Völkerrecht und alles, worauf sich die Welt nach dem Schrecken des letzten Weltkrieges geeinigt hat, mit Füßen getreten wird. Die beschlossenen Maßnahmen erscheinen trotz gegenteiliger Behauptungen eher zahnlos, man gibt die Ukraine verloren, so scheint es, weil niemand eine noch weitergehende Eskalation mit einer Atommacht riskieren möchte und, seien wir ehrlich, auch nicht kann.
Es bleibt die Hoffnung, dass in Putins Hirn noch ein Rest von Rationalität vorhanden ist, der ihn hoffentlich daran hindert, die östlichen Natostaaten ernstlich zu bedrohen. Und dass dieser Krieg vielleicht doch der Anfang des Endes des Möchte-gern-Zaren sein wird, weil sich sein Volk ihm doch verweigert. Am Ende gewinnen Despoten nicht!