Der kleine Tod schlotterte vor Kälte.

Der volle Mond, noch so eben in den umherziehenden Nebelbänken zu sehen, bot keinen Trost und kaum Orientierung. Wie ein überreifer, fetter Camembert hing er knapp über dem Horizont am östlichen Himmel, fast schien es, als würde er über die Dächer der Häuser rollen, um dann irgendwo dahinter im Wald einfach herunterfallen.

Der kleine Tod stolperte weiter.

Bittere Kälte biss seinen schmalen Körper, eisige Finger schienen seinen Hals zu berühren, strichen über seine grauen Wangen. Aus seinen Füßen in den alten Stiefeln war jegliche Wärme gewichen, Nebelfetzen wie feuchte Spinnweben netzten seine Stirn.

Der kleine Tod hatte Angst.

Rechts und links von ihm blinkten von Zeit zu Zeit kleine rote und weiße Lichter auf, Grablichter zum Gedenken an die Verstorbenen, betrauert oder auch nicht. Der kleine Tod hatte keinen Sinn für die ordentlich geharkten und mit frischen Blumen oder Gestecken geschmückten Gräber und die Namen, Daten und Sprüche auf den Steinen interessierten ihn sowieso nicht.

Ein Rascheln im Gebüsch, irgendetwas floh durch das trockene Laub, der kleine Tod fasste seine kleine Sense fester. Glühende Augen starrten ihn an, bevor sie im nächsten Moment verschwanden. Nur eine Katze?

Ein Käuzchen schrie und in der Ferne bellte ein Hund.

Der kleine Tod hastete weiter, die Augen gesenkt, um in den Nebelschlieren, die um ihn zu tanzen schienen, nicht über eine Baumwurzel zu stolpern und womöglich der Länge nach auf dem Weg oder schlimmer noch auf einem Grab zu landen. Seine Nase lief, aber er hatte natürlich kein Taschentuch dabei. Immer weiter führte sein Weg vorbei an alten Bäumen, knorrigen Rhododendren und mächtigen Grabsteinen, fort von der Welt des Lichts hin zur Finsternis…

Was war das nur für eine Scheißidee gewesen, dachte der kleine Tod. Warum ein Treffpunkt mitten auf dem Friedhof ausgerechnet an diesem Abend? Aber er hatte natürlich nicht ablehnen können. Dann hätte er ja womöglich zugeben müssen, dass er sich doch fürchtete. Und außerdem hätte er die Wette verloren. Nein, das kam nicht infrage. Großspurig hatte er zugestimmt, hatte sogar noch gelacht, als sein Gegenüber besorgt (und ein bisschen belustigt) gefragt hatte, ob er sich denn traue, abends allein auf den Friedhof zur alten Kapelle zu kommen. Und ihm eine ganz besondere Überraschung versprochen hatte, aber nur, wenn er niemandem von ihrer Wette erzählte. 

Und nun hatte er den Salat. Für einen Moment hielt er inne und sah sich suchend um. Ja, dort war das alte Grabmal, ein mächtiger Engel, ein wenig windschief, müde vom ewigen Wachen und vom Nebel umhüllt, als hätte er zur Feier des Tages ein neues Kleid übergeworfen. Liebevoll und mit weit ausgebreiteten Armen schien er nur auf den kleinen Tod gewartet zu haben. Hinter dem Engel teilte sich der Weg, der schmalere führte zur halb verfallenen Kapelle derer von … keine Ahnung, der kleine Tod hatte es vergessen.

Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Mit dem schwarzen Ärmel seines Kostüms wischte er sich den kalten Schweiß und die Feuchtigkeit aus dem Gesicht. Weißgraue Schlieren von Schminke ließen den aufgedruckten bleichen Unterarmknochen eher wie den Körper eines wolligen Schafes wirken.

Bei dem Anblick musste der kleine Tod plötzlich grinsen, die Angst ließ für einen Moment nach. Es war doch alles gar nicht so schlimm. Am Tag war er schon hundertmal über den Friedhof gegangen, es war der kürzeste Weg zur Schule. Das war doch nichts anderes jetzt, nur eben kein Sonnenschein. Und die Kapelle kannte er wie seine Westentasche, schließlich kam er oft genug mit seinen Freunden hier her. Warum also sollte er Angst haben? Nur weil es dunkel und neblig war? Und weil Halloween war? Ach, Quatsch. Die Angst verflog, ein befreiendes Lachen gluckste aus seiner Kehle, er konnte es nicht zurückhalten.

Das Lachen schien im Nebel zu verschwinden und gleichzeitig zurückgeworfen zu werden. Ein hohles Echo, von dem dichten Gesträuch rundherum noch verstärkt, fast so als hätten sich dort Gestalten versteckt, die mit ihm lachten… Nebelgeister, die immer näher zu kommen schienen, ihre Hände nach ihm streckten, ihn fassen wollten…

Der kleine Tod schwieg erschrocken, hörte nichts außer seinen eigenen Atemzügen. Und das schnelle Pochen seines Herzens.

Nur weiter jetzt, es war nicht mehr weit.

Endlich erreichte er die Kapelle. Gottseidank, dachte er, völlig außer Atem und lehnte seine Stirn für einen Moment an die kühlen feuchten Mauersteine neben dem Eingang. Nasse Efeublätter streiften seinen Hals. Mit einem spitzen Schrei sprang er zurück und schlüpfte schnell durch den schmalen Spalt neben dem schmiedeeisernen Gitter, das ziemlich schief in den Angeln hing und schon lange keine Eindringliche mehr abhielt, unendlich erleichtert, den unheimlichen Nebeln entkommen zu sein.

Jetzt, nachdem er die rettende Kapelle endlich erreicht hatte, war er doch wieder froh, niemandem von dem Treffen erzählt zu haben. Seine Mutter hätte es natürlich verboten, sie war ja immer so besorgt. Nur zögernd hatte sie ihm erlaubt, heute am frühen Abend zur Halloween-Party im Kinderzentrum gehen. Er hatte Stein und Bein schwören müssen, dass er danach gleich nach Hause kommen und nicht womöglich noch mit seinen Freunden durch die Nachbarschaft ziehen und Klingelstreiche spielen und Leute erschrecken würde. Dabei war er doch kein Kleinkind mehr und konnte gut auf sich selbst aufpassen.

Ach, kleiner Tod, hättest du doch auf deine Mutter gehört…

Vorsichtig legte der kleine Tod seine kleine Plastiksense auf den Boden und sah sich um. Aber niemand verbarg sich in den dunklen Ecken des verfallenen Gebäudes. Hatte sein Freund sich womöglich nur einen Scherz mit ihm erlaubt? Wenn es doch nur nicht so kalt wäre! Er schlang seine Arme um den Oberkörper, aber auch das wärmte ihn nicht. Hier drin schien es noch viel kälter als draußen zu sein.

„Hallo?“, rief er leise. Seine Stimme klang dünn und zittrig. Niemand antwortete. Er begann sich nach einer heißen Schokolade zu Hause in der warmen Küche zu sehnen… oder einem heißen Bad. Hätte er doch wenigstens eine warme Jacke dabei. Er schniefte wieder und wischte mit der restlichen Schminke auch ein paar Tränen von seinem Gesicht.

Eben hatte er beschlossen, einfach nach Hause zu gehen, da verdunkelte ein Schatten den Eingang…

der große Tod betrat den feuchten, kalten Raum.

*** Ende ***