Sein Kopf fühlte sich an wie eine überreife Melone, er würde zerplatzen, sobald er sich bewegte. Aber anscheinend funktionierte sein Gehirn noch, wenigstens eingeschränkt. Er hörte draußen erneut Regen rauschen und erinnerte sich glasklar an jenen Moment, bevor irgendjemand ihm eins übergezogen hatte. Dieser Jemand hatte ihn inzwischen in eine Ecke gezerrt und Hände und Füße mit jener unzerreißbaren dünnen Schnur gefesselt, mit der er normalerweise überhängende Pflanzenteile befestigte. So fest, dass sie unangenehm in die Haut schnitt und dafür sorgte, dass sich seine Fingerspitzen taub anfühlten.
Bruno versuchte vorsichtig ein Auge öffnen. Obwohl es in der Hütte eher dämmrig war, verursachte ihm selbst dieses diffuse Licht entsetzliche Kopfschmerzen, die sich in Wellen unter seiner Schädeldecke fortsetzten. Er konnte nicht verhindern, dass ein leises Stöhnen über seine Lippen kam.
„Na, Alter, warst du doch nicht so oberschlau, was? Ziemlich dumm, allein hierher zu kommen.“ Alex grinste ihn böse an, während er die Jutesäcke, in denen das Bild steckte, ebenfalls mit der Schnur umwickelte.
Alex’ Stimme tat seinem Kopf weh und kam ihm auch ein wenig verzerrt vor, genauso wie Alex selbst, irgendwie schien sich der Raum zu entfernen… Himmel, er durfte jetzt bloß nicht wieder ohnmächtig werden.
„Warum“, seine Stimme gehorchte ihm nicht ganz, er leckte sich die Lippen, holte tief Luft, was wiederum die Schmerzen hinter seiner Stirn anschwellen ließ und machte einen neuen Versuch. „Warum klaust du ein wertloses Bild?“
Alex grinste noch mehr, seine Züge nahmen groteske Formen an, während Bruno mit plötzlich aufsteigender Übelkeit kämpfte und sich alles um ihn zu drehen begann. „Wertlos? Ha, das glaubst du auch nur!“ Bruno kam nicht mehr dazu, über diese Aussage nachzudenken, erlösende Dunkelheit umfing sein gematertes Hirn.
Das nächste Mal erwachte er davon, dass etwas Schweres unsanft gegen seine Schulter gestoßen wurde. Irgendjemand rumorte immer noch im Schuppen herum. Er riskierte einen vorsichtigen Blick und überraschenderweise war es nicht Alex, der dort mit dem Bild rumhantierte. Denn Alex lag neben ihm, den Kopf an seine Schulter gebettet. Offensichtlich ohnmächtig und ebenfalls mit der Gärtnerschnur gefesselt. Brunos etwas träges Hirn versuchte zu erfassen, was gerade passierte, aber bevor er Klarheit darüber gewinnen konnte, verkomplizierte sich die Situation erneut, weil Trixi Hammerstein in der offenen Tür erschien. In ihrer Rechten hielt sie einen kurzen Spaten, der vermutlich auf dem Hof liegen geblieben war, weil Alex ihn beim Aufräumen vergessen hatte. Bruno empfand zum ersten Mal im Leben Dankbarkeit für Alex’ Nachlässigkeit, auch wenn er eigentlich stinksauer auf ihn war.
Trixi legte ihren Zeigefinger an ihre Lippen, bedeutete ihm, sich nicht zu rühren, während sie sich lautlos Richtung Paul bewegte, der mit dem Rücken zu ihr an einem alten wackligen Pflanztisch stand und immer noch versuchte, den Rahmen des Bildes zu entfernen.
Bruno zuckte regelrecht zusammen, als er das blanke Blatt des Spatens auf Pauls ahnungslosen Hinterkopf niedersausen sah. Paul fiel wie eine gefällte Eiche, ohne einen Laut.
„Oh Gott, oh Gott!“, begann Trixi zu kreischen, ließ den Spaten fallen und sank zitternd neben Paul nieder. „Ich hab ihn umgebracht!“
„Ach, Quatsch“, Bruno wunderte sich, dass seine Stimme so problemlos funktionierte. Sein Kopf dröhnte zwar immer noch, aber die Übelkeit war weg und der Raum um ihn hatte sich augenscheinlich stabilisiert. „Wir leben ja schließlich auch noch.“
Das brachte Trixi in die Wirklichkeit zurück, stoppte jedoch nicht ihr Gejammer, denn jetzt wandte sie sich Alex zu, der nach wie vor ohnmächtig an Brunos Schulter lehnte. „Alex, zum Himmels Willen, Alex, wach doch auf!“ Trixi schien selbst der Ohnmacht nahe, als sie versuchte, Alex durch Schütteln und leichte Schläge auf seine Wangen ins Leben zurückzuholen. Endlich schlug er stöhnend die Augen auf und Bruno sah, dass er würgend den Brechreiz unterdrückte. „Mach doch mal die verdammten Fesseln ab“, stieß er hervor, bevor man wieder das Weiße in seinen Augen sehen konnte und er erneut gegen Brunos Schulter sank.
Trixi war aufgesprungen und suchte auf dem Pflanztisch hektisch nach einem Messer oder irgendwas, mit dem sie die Schnur durchtrennen konnte. Endlich hatte sie eine verrostete Gartenschere gefunden und kniete neben Alex nieder, um die Schnur zu durchtrennen.
„Lassen Sie das!“ Bruno schaffte es sogar, eine gewisse Härte in seine Stimme zu legen. Trixi hielt inne und sah überrascht auf. „Aber warum denn, er…“
„Ihr lieber Alex hat das Bild geklaut!“ Er spürte wie seine Wut erneut anschwoll. „Dieser Nichtsnutz! Und alles wegen so einem alten Heimatschinken, für den sowieso niemand mehr als 20 € bezahlt. Wenn überhaupt!“
Aber dann fiel ihm wieder ein, was Alex gesagt hatte. Irgendetwas stimmte hier nicht, warum hätte Paul sich sonst so aufführen sollen?
„Los, schneiden Sie mir erstmal diese Fesseln ab, bevor mir die Hände absterben.“ Trixi gehorchte und erleichtert rieb er sich die kribbelnden Finger.
„Aber ich verstehe das alles nicht.“ Trixi saß ratlos auf dem Boden und bot ein Bild des Jammers. Ihr Knoten hatte sich endgültig gelöst, das Haar hing ihr in feuchten Strähnen im Gesicht, die Wimpertusche war verlaufen und bildete dunkle Spuren auf ihren Wangen. Und ihre Pumps waren durch das feuchte Gras draußen völlig ruiniert.
„Paul ist doch viel stärker als Alex. Warum hat er ihn niedergeschlagen?“, schniefte sie. „Es ist doch nur ein blödes Bild.“
Paul rührte sich stöhnend. Trixi sprang auf und ergriff erneut den Spaten. Fast hätte Bruno laut aufgelacht. Was boten sie nur für ein Bild? Trixi als wild gewordene Furie mit dem Spaten in der Hand, die drei zu ihren Füßen liegende, mehr oder weniger k.o. geschlagene Männer in Schach hielt.
„Trixi, Liebling, mach mir doch die Fesseln ab“, jammerte Alex, eben wieder erwacht. Sofort ließ sie den Spaten fallen und eilte zu ihrem Jüngling. Diesmal ließ Bruno sie gewähren. Paul war anscheinend wieder in die erlösende Ohnmacht versunken.
„Alex, warum um alles in der Welt hast du das getan?“ Alex rückte, sich ebenfalls die Finger reibend, von Bruno ab. „Für dich, Kleines, nur für dich.“ Trixi schluchzte auf und barg den Kopf ihres leidenden Liebhabers an ihrer Brust, strich ihm sanft übers Haar. „Alles wird gut“, murmelte sie, es klang als würde eine Mutter ihr Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte, trösten.
Unter anderen Umständen hätte Bruno sich über die beiden und vor allen Dingen über Trixis Verwandlung von der karrierebesessenen Schnepfe zur liebestrunkenen Übermutter wohl prächtig amüsiert, jetzt hingegen interessierten ihn anderen Dinge.
„Alex, was ist dran an dem Schinken? Es ist gar nicht wertlos, oder?“