
© sischreibt
In der Krise – fast hoffnunglos
7. August 2020
Gestern sah ich eine Wolkenwand im Nordosten. Sie hatte ein wenig die Form des nordamerikanischen Kontinents. Unten schmal, hell, fast weiß, darüber sich verbreiternd, weit oben mit einer Ausbuchtung wie im östlichen Kanada. Mit der zerfransten Küste im Nordosten und großen Flächen nach Nordwesten. Die Wolken waren bedrohlich grau, nur am oberen Rand wieder freundlich weiß. Florida war ein wenig zu klein geraten, gerade noch zu erahnen.
Nordamerika von dunklen, bedrohlichen Wolken überschattet, die Realität am Himmel abgebildet.
Man fragt sich, was schlimmer ist in diesem Land: der erratische Präsident, die Corona Pandemie, der Rassismus, die Gewalt, das Drogenproblem, die Wirtschaftskrise. Kann man das überhaupt gewichten? Es hängt doch alles mit allem zusammen.
Ein Präsident, völlig außer Kontrolle, so lächerlich, dass man schon gar nicht mehr erwartet, dass er auch nur eine einzige sinnvolle Entscheidung treffen könnte (man würde es vermutlich gar nicht bemerken) und so gefährlich, dass man jeden Tag Angst haben muss, dass er noch weiter übers Ziel hinausschießt als er es bislang schon tut.
Und der Wahlkampf beginnt gerade erst.
Wobei man jetzt schon das Gefühl hat, dass er in völliger Verzweiflung zu noch mehr gefährlichen Aktionen bereit ist. Alle Welt hofft, dass er nicht wiedergewählt wird, dennoch jubeln ihm seine Anhänger zu wie eh und je. Sie sind völlig ohne Zweifel, als denkende Europäerin fragt man sich, wie das möglich ist. Was ist nur los in diesem Land und mit diesen Menschen, die Krankenversicherung und Corona-Schutzmaßnahmen für Sozialismus halten und stattdessen Bezirksregierungssitze waffenstarrend umlagern, um eine Öffnung der Wirtschaft zu erzwingen.
Die aktuellen Neuinfektionen heute: rund 60 000 binnen 24 Stunden. Eine unglaubliche Zahl und ungefähr doppelt so viele wie im April / Mai. Seit Mitte Juni steigen die Zahlen, bis dahin waren sie von Mitte Mai an etwas gefallen. Jetzt scheint nichts mehr eine zweite Welle aufzuhalten.
Dazu ein Präsident, der verharmlost, kleinredet, an öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen festhält und dem die Wirtschaft (und sein Eigennutz) über alles geht.
Wie lange wird es noch dauern, bis in den jetzt hauptsächlich betroffenen Gebieten Texas, Georgia, Arizona und Kalifornien Zustände wie vor kurzem noch in New York herrschen? Übrigens, bis auf Kalifornien, alles Trump-Land. Werden sie ihn auch dann noch wählen, wenn Angehörige und Nachbarn sterben, weil es nicht genug Platz in den Krankenhäusern gibt?
Vermutlich schon.
Der Niedergang der Vereinigten Staaten, der sich lange angekündigt hat, scheint sich im Moment enorm zu beschleunigen. Teilweise hat man den Eindruck, sie verwandeln sich in ein von einem irren Diktator und Kleptokraten regiertes Dritte-Welt-Land. Gewaltausbrüche, Rassismus, dazu die Pandemie… von der unumschränkten Weltmacht zu einem failed state in nur einer Generation.
Mit einem Mal zeigt sich wie unter einem Brennglas, wie anfällig eine tief gespaltene Gesellschaft ist, wenn der wirtschaftliche Erfolg fehlt. Dazu ein Präsident, der nichts tut, um die einzelnen Gruppen zu versöhnen, sondern ganz im Gegenteil, die Konflikte wie in der Rassismusdebatte noch anheizt, indem er sich klar auf die Seite der Weißen stellt. Ein Schlag ins Gesicht all derer, die unter der Krise und den Folgen der jahrhundertelangen Unterdrückung am meisten leiden.
Ein Pulverfass und daneben ein Präsident mit einem Streichholz und einem dämlichen Grinsen im Gesicht. Nur die dümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selbst.
Mir wird angst und bange, sollte Trump wiedergewählt werden. Ich habe Zweifel, dass das Land (und die restliche Welt) eine weitere Amtszeit aushalten, ohne existentiellen Schaden zu neben.
Dunkle Wolken über Nordamerika. Wenig Hoffnung auf Besserung.
We the people
4. November 2020
“We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America.”
„Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“
Das ist die Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten, verabschiedet am 17. September 1787.
„We the people“ – wir, das Volk.
Heute, an diesem historischen Tag nach der Wahl des 46. Präsidenten hätte man sich gewünscht, dass das Volk verantwortlicher mit seiner Aufgabe umgegangen wäre.
Und dass der Präsident selbst der immensen Verantwortung, die das Amt bedeutet, gerecht werden würde.
Aber beides ist nicht passiert. Im Moment ist noch nichts entschieden, die Kartendeuter und Glaskugelorakel versuchen mit dem Mute der Verzweiflung, Konstellationen und Szenarien zu präsentieren, die einen Sieg Bidens doch noch möglich erscheinen lassen.
Aber es sind nur noch drei Rust-Belt- und zwei Südstaaten übrig. Und ein Wahlmann in Maine. Da ist es schon schwierig, optimistisch zu bleiben, ob das für die fehlenden 32 Wahlmännerstimmen reicht, die Biden noch fehlen. Derzeit liegt er in allen Staaten in der Auszählung zurück, allerdings fehlt wohl noch einiges an Briefwahlstimmen.
Der amtierende Präsident hingegen hat sich, wie zu erwarten war, bereits zum Sieger erklärt (mit derzeit 213 Wahlmännerstimmen!) und angekündigt, sich an den Obersten Gerichtshof zu wenden, um die weitere Auszählung zu stoppen. Das kann er so einfach zwar gar nicht, was schert es einen Mann, der nachgewiesen mehr als 10.000 Lügen in vier Jahren Amtszeit erzählt hat?
Und tatsächlich hat es dieser Lügenbaron, gegen den Münchhausen ein Provinzcomedian war, bis hierher geschafft, man ist fassungslos.
In Europa ertönt entsetztes Geheul, man versucht sich zu fassen, liberale Ostküstler erwägen eine Auswanderung, und man selbst fragt sich, was daraus werden soll. Obwohl wir diesen Moment auch vor vier Jahren erlebt haben und uns im Vorfeld immer wieder gesagt haben, dass man nicht absehen kann, wie es ausgehen wird, haben wir doch alle im Inneren gedacht, dass so etwas nicht zum zweiten Mal passieren kann.
Kann es aber doch, und wenn es so kommen würde, werden die nächsten vier Jahren nicht einfach eine Fortsetzung der entsetzlichen vergangenen vier Jahre sein, sondern eine Steigerung, eine Potenzierung, wie Norbert Röttgen ganz richtig erkannt hat.
Und es geht schon los: der Präsident legt die Axt an die Verfassung, erklärt sich vorzeitig und ohne Grundlage zum Sieger, heizt damit die Stimmung unter seinen Anhängern an, die, wenn die Auszählung zu einem anderen Ergebnis kommt, genau den Wahlbetrug wittern werden, den Trump ihnen vorher eingeredet hat. Von langer Hand geplant, untergräbt der Präsident die Verfassung und alles, was den Amerikanern bisher heilig war und auf das sie so stolz waren.
Die Spaltung wird sich verschärfen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen werden sich noch unversöhnlicher gegenüber stehen, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den waffenstarrenden Lagern, vielleicht ein Bürgerkrieg, vielleicht muss sich das Land erst zu Grunde richten um danach wieder zusammen zu finden. Der Preis wird hoch sein.
The Land of Hope and Glory – zappenduster
Hoffen und Bangen
5. November 2020
Noch immer kein verlässliches Ergebnis in den USA, aber im Gegensatz zu gestern, als schon alles verloren schien, kann man heute vorsichtigen Optimismus wagen. Es fehlen noch 6 Wahlmännerstimmen für Biden bis zu den erlösenden 270, und genau 6 Stimmen gäbe es für Nevada, wo Biden knapp führt, sich die Auszählung aber quälend lange hinzieht. Angeblich gibt es heute Abend gegen 18.00 Uhr unserer Zeit ein Ergebnis, dann könnte das „nail biting“ ein Ende haben.
Der Clown mit der merkwürdigen Frisur im Weißen Haus dreht derweil völlig frei. Nachdem er sich gestern gegen 8.00 Uhr UTC schon zum Sieger erklärt hatte (was ein Aufheulen nicht nur bei den Demokraten und in Europa sondern auch bei seinen Parteigenossen zur Folge hatte), hat er später die Anrufung der Gerichte verkündet, um einerseits eine Nachzählung in Wisconsin zu erreichen (was legitim ist bei einem so geringen Unterschied von ungefähr 20.000 Stimmen, also ist dagegen nichts zu sagen) und andererseits einen Auszählungsstopp für die Briefwahl in Michigan zu erwirken, weil er natürlich weiß, dass er bei den Briefwählern im Hintertreffen ist (80 % der Briefwähler stimmen für Biden). In Europa herrscht Fassungslosigkeit, Entsetzen und immer noch die Hoffnung, dass es ein Ende ohne Schrecken für weitere vier Jahre gibt, auf das man natürlich gehofft hatte, auch wenn man das öffentlich nicht so gesagt hatte und sich zurückgehalten hatte. Aber so haben wir ja auch alle im Inneren gedacht.
Man kann nur hoffen, wenn es tatsächlich gut ausgeht, dass die Machtübergabe einigermaßen friedlich verläuft und der Verlierer die Niederlage akzeptiert. Und, noch wichtiger, seine Anhänger. Denn das erscheint mir fast genauso fragwürdig, der Hass, denn ist es tatsächlich Hass, zwischen den Lagern ist so tief und allumfassend, dass einem angst und bange wird, auch wenn das größte Übel und der Einpeitscher nicht mehr da sein wird.
Wie es gestern mehrfach hieß, ist Trump ja nur das Symptom für eine gesellschaftliche Entwicklung, die schon vor vielen Jahren begonnen hat. Vielleicht tatsächlich mit der Aufhebung der Pflicht zur ausgewogenen Berichterstattung in den Medien durch Ronald Reagan in den Achtzigern, mit der die heutige Polarisierung ihren Anfang genommen hat. Der australische Medienzar Rupert Murdoch hat damals erkannt, dass es zwar reichlich liberale Medien und Sender gab, aber nichts, was den Konservativen eine Heimat bot. Sein Fox News füllt diese Lücke, mit bekanntem Ausgang.
Aber natürlich hat erst das Aufkommen der angeblich sozialen Medien die heutige Situation soweit verschärft, dass man sich fragt, wie eine Annäherung überhaupt jemals wieder stattfinden kann.
Ein weiterer, oft übersehener Punkt ist das Verschwinden der regionalen Presse in weiten Teilen des Landes, dadurch ist eine breit gefächerte Information über die Ereignisse vor Ort nicht mehr möglich und führt so weiter dazu, dass Menschen in ihren jeweiligen Filterblasen leben und regelrechte Parallelwelten entstehen, ablesbar beispielsweise daran, dass die Anhänger der beiden politischen Lager das Geschehen in der Coronakrise völlig unterschiedlich bewerten, 80 % der demokratischen Wählen halten das Vorgehen der Regierung in dieser Frage für schlecht, 80 % der republikanischen für gut. Da fragt man sich, ob die im gleichen Land leben. Und gerade das ist vielleicht der Hauptgrund für die Unversöhnlichkeit, mit der sich beide Lager gegenüberstehen: sie leben in völlig unterschiedlichen Universen, abgeschotteten Filterblasen und sind so weit voneinander entfernt, dass sie kaum noch für die Argumente der jeweils anderen erreichbar sind.
Deswegen darf man berechtigte Zweifel haben, ob das Verschwinden des Symptoms Trump zur Heilung oder wenigstens Besserung Krankheit der Spaltung führen kann. So gesehen ist Joe Biden dafür vielleicht die beste Wahl, vielleicht wird sich die Aufstellung eines ziemlich alten und vermeintlich schwachen Kandidaten noch als Segen oder einzige Hoffnung auf Besserung überhaupt erweisen.
Aber noch ist nichts entschieden und alles ist Hoffnung.
Third time around
6. November 2020
Der dritte Tag nach der Wahl und immer noch kein Ergebnis, ganz im Gegenteil, es scheint nur im Schneckentempo voran zu gehen, die Zahlen verändern sich minimal, aber weiterhin mit Tendenz zum Vorteil von Joe Biden und langsam wagt man sich vorzustellen, dass es tatsächlich so kommen könnte, dass der schlechteste Präsident aller Zeiten abgewählt wird. Ob er das Weiße Haus kampflos verlässt, sei allerdings dahingestellt, es sieht nicht danach aus.
Im Moment verhält er sich wie ein angeschossener Grizzlybär, wütet und tobt auf Twitter, unterstellt Wahlbetrug, droht mit dem Obersten Gerichtshof – wenn man gedacht hätte, dass es nicht schlimmer werden könnte, wurde man in den letzten zwei Tagen eines Besseren belehrt. Mehrere Fernsehkanäle haben die Übertragung einer Pressekonferenz abgebrochen, weil sie ihm keine Plattform für seine Lügen und Anschuldigungen mehr zur Verfügung stellen wollten. Twitter versieht seine Ausbrüche mit Warnhinweisen und Faktenchecks, Absetzbewegungen sind erkennbar.
Und doch wüten er und seine Vasallen weiter, Sohn Donald jr. ruft zum „totalen Krieg“ gegen den Wahlbetrug auf, Anwälte, darunter der amoralische Rudy Guiliani und der Hetzer Richard Grenell, der nach seinem berühmt berüchtigten Gastspiel als Botschafter in Berlin einer der engsten Berater Trumps ist, kippen kübelweise Lügen und Dreck auf allen Kanälen aus, um die treuen Anhänger aufzuhetzen. Was daraus folgen könnte, mag man sich nicht wirklich vorstellen.
Wie werden wir diese Tage mit dem Abstand einiger Jahre, vielleicht wenn die nächste Präsidentschaftswahl ansteht, sehen? Als der Beginn des Niedergangs, den Weg ins Chaos oder die Chance auf einen Neubeginn, auf die Rückbesinnung auf die Werte der amerikanischen Verfassung, diesem großartigen Dokument der Freiheit und der Anständigkeit?
Wie konnte es nur soweit kommen? Und wie kann die Zukunft aussehen?
Auf jeden Fall schafft es diese Wahl, uns alle zu fesseln und fast schon manisch Zahlen und News zu checken, maximale Aufmerksamkeit, ein letztes Mal hoffentlich, bevor der orange Stern verglüht und auf Nimmerwiedersehen in den Schwärzen der Unendlichkeit verschwindet, Amerika aus einem Alptraum erwacht und alles wieder wie früher ist. Halt! DAS wird nicht passieren. Trump wird nicht die Größe haben, mit Anstand abzutreten, egal wie eindeutig das Ergebnis ist. Und es gibt schon Überlegungen, vielleicht 2024 nochmal anzutreten, was theoretisch möglich wäre, auch wenn er dann 78 Jahre alt wäre, aber warum sollte ihn das hindern? Oder indem er seine Familie weiter für die Nachfolge installiert, vielleicht Don jr., der neuerdings verstärkt sichtbar ist, oder, vielleicht 2028, Ivanka, seine Lieblingstochter. Amerika wird mit seinem Vermächtnis leben müssen, der Trumpismus verschwindet nicht mit seinem Erfinder und wir werden noch jahrelang seine Folge spüren.
Und doch wagt man einen vorsichtigen Blick, wie es sein könnte, wenn Biden gewinnt: Rückkehr zum Klimaschutzabkommen, zur WHO, zum Iran-Deal, schon das sind fast verlockende Aussichten. Dazu ein völlig anderer Ton, Konsens, Bündnisverantwortung, leiser, vermittelnder, was für eine Wohltat wird das sein. Selbst wenn Biden nur ein Übergang ist und vielleicht nicht viel erreichen wird, wird schon die Abwesenheit des Krawalls und des Regierens per Twitter einem das Gefühl von Seriosität und lang vermisster Ernsthaftigkeit geben, vielleicht eine kleine Hoffnung in diesen Zeiten, die doch schon anstrengend genug sind.
Keep calm
7.11.2020
Das amerikanische Wahlsystem stellt einen auf eine harte Probe. Eine weitere Nacht ohne Ergebnis, ein weiterer Tag des Wartens, wenn auch weiterhin mit Tendenz zur Hoffnung.
Der amtierende Präsident rotiert auf allen Kanälen, bot zuletzt einen bizarren Auftritt während einer Pressekonferenz, so irritierend, dass etliche Sender die Übertragung abbrachen. Seither wütet er wie gewohnt auf Twitter, das er inzwischen auch angreift, weil sie seine Tweets mit Faktenchecks belegen.
Der vielleicht zukünftige Präsident hat sich gestern Nacht mit einer Rede an die Nation gewandt. Nicht die große Siegesrede, obwohl die entsprechende Bühne schon aufgebaut war, sondern ein erstes Statement.
Was für ein Unterschied!
Ein schmaler, freundlicher, alter Mann, den man sich gut als Großvater inmitten einer quirligen Schar Enkelkinder, denen er eine Geschichte vorliest oder ihnen aus seiner Kindheit erzählt, vorstellen kann. Während seiner Rede stolpert er manchmal, mittlerweile weiß man warum: als Vierjähriger hat er zu stottern begonnen, manchmal macht ihm das heute noch zu schaffen, es ist aber keinesfalls ein Ausdruck von Demenz oder anderer altersbedingter Ausfallserscheinungen.
Der Inhalt der Rede geprägt von dem Gedanken, das Land zu einen, der Präsident aller Amerikaner zu sein, alles dafür zu tun, die drängenden Probleme zum Wohle aller zu lösen. Er reicht die Hand, betont die Werte der Vergangenheit, des alten Amerika, geht auf die, die ihn nicht gewählt haben zu, gesteht ein, dass es schwer werden wird, man dürfe auch gegenteiliger Meinung sein, aber man sei doch nicht verfeindet. Ein besonders emotionaler Moment: als er von den vielen Toten der Covidpandemie spricht, von der Trauer und dem Verlust, von Plätzen „die am Tisch leer bleiben“ und dass er weiß, was diese Verluste bedeuten. Und das nimmt man ihm ab, wenn man weiß, welche Verluste er in seinem Leben verkraften musste. Und es macht ihn glaubwürdig, wie überhaupt die Glaubwürdigkeit vielleicht seine hervorstechendste Eigenschaft ist. Und vielleicht genau das, was seine Präsidentschaft zu einer ganz besonderen machen würde.
Nach all dem Streit, der Hetze, der Polemik, den Lügen und der Amoralität wirkt dieser feine alte Mann so wohltuend für die Seele, dass man fast vor Erleichterung weinen möchte.
Er bittet um Geduld, die Demokratie ihr Werk tun lassen, betont immer wieder, wie wichtig es ist, dass alle Stimmen gehört und gezählt werden müssen, dass das Votum der Wähler das kostbarste überhaupt ist, was die Demokratie ausmacht.
Das ist Balsam für die Seele, man kann nur hoffen, dass dieses Angebot, aufeinander zuzugehen, auch bei seinen Gegnern verfängt und hilft, die Gräben ein wenig zuzuschütten.
Mir scheint, Joe Biden, der freundliche alte Mann, ist genau der, den dieses Land braucht.
God bless America
11. November 2020
Hoffnung macht sich breit, es scheint, als wäre plötzlich etwas abgefallen von dem Land. Diese ganze Aggression, die Hetze, die Lügen. Plötzlich scheint das Leben heller, die Stimmung ausgelassener, die Freund und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft greifbarer. Es herrscht Euphorie und Aufbruch, eine Welle der Erleichterung rund um die Welt.
Aus allen Lagern kommen Glückwünsche, verbunden mit der Hoffnung auf eine gute Zusammenarbeit, endlich wieder.
Und endlich nicht mehr das Gefühl, morgens nach dem Aufstehen schon mit einer Flut von Hass, Dummheit, Arroganz, Lügen und Aggression via Twitter übergossen zu werden. Und den ganzen Tag immer wieder davon betroffen zu sein, immer neue Tiraden, dumme Ideen, immer mehr, immer schneller, immer aggressiver.
Der 45. Präsident war gestern Golfen. Unglaublich, oder? Und zweifelt nach wie vor in Großbuchstaben die Wahl an. Aber nach seiner denkwürdigen Pressekonferenz am Donnerstag ist er unsichtbar, ein wenig kommt es einem vor, als wäre er ein Luftballon, aus dem langsam die Luft entweicht und der dann achtlos noch für eine Weile traurig und nicht beachtet in einer Ecke des Zimmers hängt. Zumindest in den Medien kommt er nicht mehr vor, selbst Fox News hat sich abgewendet, konzentriert sich auf die aktuelle Lage, den neuen President elect. DT wirkt da wie von gestern.
Und wie wohltuend ist der Unterschied! Ich hoffe, dass das auch die erkennen, die ihm bisher mit abgrundtiefen Hass begegnet sind. Vielleicht kann er tatsächlich die Seele des Landes heilen.
Aber auch er wird an der Realität gemessen werden und an dem, was machbar ist. Die Mehrheitsverhältnisse im Kongress sind nach wie vor unklar, vielleicht noch bis Januar, wenn in Georgia noch eine Stichwahl stattfinden wird. Gegen den Kongress zu regieren ist schwierig bis unmöglich, Joe Biden wäre ein hilfloser Präsident, der mit Dekreten regiert, die nach seiner Abwahl wieder zurückgenommen werden können. Was im Moment ja auch eine Chance ist, denn dadurch kann der Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen und dem mit dem Iran leicht wieder rückgängig gemacht werden.
Und wer weiß, vielleicht passiert in diesen vier Jahren ja ein Wunder und es beginnt vielleicht eine demokratische Ära. Im Moment scheint alles möglich.
Tatsächlich kommt es einem heute vor, als würde die Sonne ein klein wenig heller scheinen und als wären die Sorgen in der Welt zwar nicht geringer, aber leichter, weil es eine reelle Chance gibt, sie miteinander zu bekämpfen.
Ich wünsche mir, dass die Euphorie trägt und hält, damit die Zukunft eine bessere wird und die vergangenen vier Jahre als eine Verirrung der Geschichte in die Annalen eingehen.
Amerikanischer Alptraum – nur ein Anfang?
7. Januar 2021
Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass der (noch) amtierende amerikanische Präsident eine Gefahr für sein Land darstellt, voila: gestern war er zu besichtigen.
Ein wütender Mob stürmt den Kongress, „das Herz der amerikanischen Demokratie“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffend anmerkte, sichtlich erschüttert. Die ehrwürdigen Hallen, die schon viel gesehen haben, aber das sicherlich lange nicht. Scheiben werden zertrümmert, Säle gestürmt, ein „Demonstrant“ räkelt sich auf dem Sessel des Sitzungspräsidenten, Schüsse fallen, vier Menschen sterben.
Die Abgeordneten waren zusammengekommen zu einer der nobelsten Aufgaben in einer Demokratie: die Bestätigung eines Wahlsiegers, eigentlich nur ein formaler Akt, aber schon vorher in einer hochgefährlichen Kampagne zur Gelegenheit des letzten Widerstandes gegen den vermeintlich erschlichenen Wahlsieg stilisiert.
Die Bilder erinnern an die Zustände in mittelamerikanischen Diktaturen, so die Worte des ehemaligen Außenministers Sigmar Gabriel. Die Kanzlerin ist „wütend und traurig“, die in den letzten vier Jahren mühsam aufrechterhaltene Maske der Neutralität und Zurückhaltung fällt, auch bei Facebook, Twitter und Co., die Trumps Konten – endlich, möchte man sagen – für zunächst 12 Stunden gesperrt haben. Aus diesem Grund musste auch die Zusicherung Trumps, nun das Amt doch geordnet zu übergeben (nicht ohne den Hinweis, dass er das Ergebnis immer noch anzweifelt!) über den Account eines Mitarbeiters verbreitet werden.
Man muss vielleicht einen Moment innehalten und sich das noch einmal vergegenwärtigen: Der Verlierer einer unzweifelhaft demokratischen Wahl in der ältesten Demokratie der Welt bequemt sich nach endlosen Wochen dazu, das Selbstverständliche, nämlich den Machtwechsel, zu akzeptieren, nicht ohne im gleichen Moment Zweifel zu säen – und damit seinen Anhängern neue Munition zu liefern. Und das nicht in einer geordneten Pressekonferenz oder im Rahmen einer Fernsehansprache, sondern über einen Twitterkanal, schon das eine Unverschämtheit, an die wir uns allerdings auch schon lange gewöhnt haben. Seine Niederlage hat er immer noch nicht eingestanden, diese Größe besitzt er nicht, was nicht weiter verwundert. Ein Vorgehen, das vor diesem Präsidenten niemand auch nur in seinen abgründigsten Gedankenspielen zu denken gewagt hätte.
Staatskrise? Inländischer Terrorismus? Dazu wurden die Unruhen gerade erklärt, damit man erweiterte Ermittlungsmöglichkeiten hat. Vielleicht doch noch eine vorzeitige Amtsenthebung aufgrund des 25. Amendments, „bei Unfähigkeit des Amtsinhabers“, im Moment scheinen selbst die Republikaner erschrocken zu sein, was „ihr“ Präsident angerichtet hat, Absetzbewegungen sind erkennbar, nachdem sich selbst der Vizepräsident Mike Pence distanziert hat.
Am Tag danach scheint es ruhig in Washington zu sein, es gilt eine nächtliche Ausgangssperre, die Nationalgarde ist eingerückt. Nur ein Spuk? Das letzte Aufbäumen vor dem unausweichlichen Ende dieser unseligen Präsidentschaft? Oder der Anfang von etwas noch viel Schlimmerem?
Mich lassen die Ereignisse erschüttert und ratlos zurück, genauso – und die Parallele drängt sich förmlich auf – wie die Erstürmung der Treppe des Reichstagsgebäudes vor einigen Wochen. Ein Teil der Gesellschaft (in den USA haben 70 Mio. Wähler für Trump gestimmt!) scheint den Konsens und die gemeinsamen Werte einer Demokratie aufzukündigen, sie sind nicht mehr bereit, sich an die Spielregeln zu halten. Für sie gelten andere Wahrheiten. Staats- und Medienverdrossenheit und das Gefühl, von den Institutionen weder wahrgenommen noch vertreten zu werden, führt nicht mehr dazu, sich im Rahmen demokratischen Möglichkeiten zu engagieren. Nein, man erkennt Tatsachen und Spielregeln einfach nicht mehr an, weil sie einem nicht in den Kram passen und bastelt sich stattdessen seine eigene Welt, eine eigene Wahrheit. Die sozialen Medien machen es einem sehr einfach, wenn man sich vom gesellschaftlichen Konsens verabschieden will, in Filterblasen und Echokammern lässt es sich gut leben zwischen Gleichgesinnten.
Was aber tun, wenn sich ein Teil der Gesellschaft aus dem Miteinander verabschiedet? Diese Frage müssen wir uns alle stellen, auch in unserem eigenen Umfeld. Wie umgehen mit Corona-Leugnern, „Systemparteien“- und „Systemmedien“-Hetzern, Demokratieverächtern? Ausgrenzen und vielleicht sogar auslachen, sich kopfschüttelnd zurückziehen? Ignorieren? Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Natürlich ist es anstrengend, mit – so scheint es manchmal – offensichtlichen Spinnern zu diskutieren, die meisten wird man auch nicht von ihrem Denken abbringen können. Aber wenn wir nicht versuchen, uns mit ihnen im Rahmen eines demokratischen Diskurses auseinander zu setzen, ihnen, selbst wenn sie es nicht akzeptieren, kein Vorbild für Diskussionen sind, wie soll es dann weiter gehen zwischen mit unserer Gesellschaft? Wer sich nicht gehört und gesehen fühlt, muss immer lauter schreien und toben, um eine Präsenz zu erzeugen. Selbst wenn sie unser Spiel nicht mitspielen wollen, müssen wir es ihnen trotzdem anbieten, immer wieder, wenn wir nicht riskieren wollen, dass unsere demokratischen Institutionen ihren Wert weiter verlieren und eines Tages gestürmt und geschleift werden.
Quo vadis Amerika?
20. Januar 2021
Quo vadis Amerika? Geschunden, zerrissen, verwahrlost Waffenstarrend In den Augen Hass und Verachtung Im Herzen verletzt Verschiedene Welten Unüberwindliche Abgründe Lügen, Wahrheiten, Verachtung Verführt oder gefolgt Aus der Not, der Unwissenheit, Stolze Nation Ohne Hoffnung? Wohin führt dein Weg?