Die kleine Anna liebte den Schnee. Dabei hatte sie noch nie welchen gesehen, obwohl sie schon fünf war und im nächsten Jahr in die Schule kommen würde. Aber es hatte auch noch nie geschneit in diesen fünf Jahren, jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie liebte den Schnee und wartete jeden Winter sehnsüchtig darauf, endlich selbst zu sehen, wie dicke Flocken weich und schwer vom Himmel fallen würden. Einfach so.

Die Mami meinte, dass Anna den Schnee so liebe läge daran, weil in dem Winter, in dem Anna ein Baby gewesen war, ganz viel Schnee gelegen hätte und die Mami mit ihr im Kinderwagen so oft spazieren gegangen war, weil Anna dann gut geschlafen hätte.

Der Papa meinte, vielleicht würde sie Meteorologin werden, wenn sie groß wäre. Anna konnte das Wort nicht aussprechen und wusste nicht, was es bedeutete, aber als der Papa „Wetterfee“ sagte, fand sie das eine gute Idee. Dann würde sie es im Winter immer ganz viel schneien lassen.

Die Oma meinte, es läge daran, dass sie zu viel Fernsehen gucken dürfe, wo man in der Vorweihnachtszeit immer so schöne Schneelandschaften sähe, die es in Wirklichkeit doch gar nicht mehr gäbe.

Die kleine Anna wurde dann ganz traurig, weil sie Angst hatte, dass es vielleicht nie mehr schneien würde.

Ihr Bruder Emil zog sie auf und erzählte ihr, wenn er groß wäre, würde er an den Nordpol fahren oder an den Südpol, an dem einen gäbe es die Eisbären und an dem anderen die Pinguine und natürlich an beiden immer ganz viel Schnee. Dann holte er den Globus, den er zum Geburtstag bekommen hatte, und zeigte ihr die weißen Flächen, auf denen immer Schnee lag, ganz oben, wo die Eisbären lebten und genau gegenüber, ganz unten, wo die Pinguine wohnten. Anna fuhr mit dem Finger über die glatten weißen Flecken und wünschte sich ein klein wenig lieber zu den Eisbären, weil sie die so kuschelig fand.

Auch in diesem Jahr war das Wetter im Dezember trübe und nass, kalter Regen fiel, manchmal schien auch die Sonne oder es stürmte, dass die Blätter wirbelten, aber nie wurde es so kalt, dass auch nur eine Schneeflocke vom Himmel fiel.

Anna schaute traurig aus dem Fenster und wartete auf das Wunder, das nicht kommen wollte.

In ihrem Nikolausstiefel fand sie eine blaue Leggings mit aufgedruckten Schneeflocken und ein weiches Stoffeisbärenbaby, das fortan ihr liebster Begleiter wurde.

Der Papa nannten sie zärtlich „Mein Flöckchen“ und malte mit ihr Schneeflocken aus Seife an die Terrassentür. Die Mami bastelte mit ihr Schneeflocken aus dünnem weißen Papier, ihr wisst schon, die, für die man Papier immer wieder faltet und dann Ecken herausschneidet und wenn man es wieder auseinanderfaltet, hat man plötzlich die schönsten Flocken. Die klebten sie in ihrem Zimmer an die Scheibe des Dachfensters über ihrem Bett. Dort lag Anna dann abends, schaute auf die Papierflocken und stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie eines Morgens aufwachen und echte Flocken auf die Fensterfläche fallen würden.

Die Omi kam vorbei, sie hatte Fäustlinge, eine Mütze und einen Schal für Anna gestrickt, natürlich mit aufgestickten Schneeflocken.

Emil nervte mit seinen Reiseplänen.

Und der Schnee kam nicht.

An Heiligabend waren alle aufgeregt und die Vorfreude riss auch Anna ein wenig mit, auch wenn sie immer wieder heimlich zum Fenster schielte, ob nicht doch wenigstens ein einziges kleines Flöckchen den Weg finden würde.

Sie bekam viele schöne Geschenke, das allerschönste, was sie unter dem Weihnachtsbaum fand, war eine Schneekugel mit Bäumen, ein paar kleinen Häuschen und einem Reh und einem Hasen, die, wenn man die Kugel schüttelte, in dem dichten, glitzernden Schneegestöber fast lebendig aussahen. Annas Wangen glühten, sie fiel vor Müdigkeit fast um und irgendwann trug der Papa sie, die Schneekugel und das Eisbärenbaby nach oben in ihr Bett.

Anna schlief tief und fest, das Eisbärenbaby im Arm, die Schneekugel auf dem Nachtisch.

Und während Anna von glitzernden weißen Wäldern mit Eisbären, Rehen und Hasen träumte, begannen draußen in der kalten Winternacht ganz sacht dicke Flocken vom Himmel zu schweben, so viele, dass das Licht in ihrem Zimmer am nächsten Morgen ein ganz anderes war und die aufgeklebten weißen Papierflocken fast gar nicht mehr zu sehen waren, weil so viel Schnee auf das Fenster gefallen war und die Häuser rundherum wie eine verträumte, friedliche Stadt in einer Schneekugel aussahen.

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