Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Wirthausehepaar, das wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind. Der Mann und die Frau waren schon viele Jahre verheiratet und sich zugetan, aber ihr dringlichster Wunsch ging nicht in Erfüllung, so dass die Frau immer trauriger und Mann immer grantiger wurde. Es verging kein Tag, an dem die Frau sich nicht danach sehnte, ein Kind in den Armen zu wiegen und der Mann nicht daran dachte, wie schön es wäre, mit einem kleinen Jungen an der Hand durchs Dorf zu gehen, stolz auf die bewundernden Blicke der Nachbarn.
Der Mann und die Frau hatten keine Freude mehr am Leben und ihrer beiden Herzen vertrockneten und so geschah es, dass sie neidisch wurden auf alle, die im Dorf ein Kind bekamen und sich an ihm freuten. Und wenn wieder eins geboren wurde und der stolze Vater mit den Männern aus dem Dorf ins Wirtshaus kam, um anzustoßen, dann freuten sie sich nicht mit, sondern spuckten heimlich hinter dem Tresen in die Bierhumpen, bevor sie sie an den Tisch brachten. Und als die Frau des Müllers im Kindbett starb und ihr kleines Mädchen nur ein paar Tage später, da lachten sie bitter vor Schadenfreude, denn warum sollte es dem Müller besser gehen als ihnen?
Und als der kleine Sohn vom Meierhof zum Abend nicht heimkam und schließlich ertrunken im Ententeich gefunden wurde, waren sie wohl die einzigen im Dorf, die nicht mit den Eltern fühlten.
Aber, ob du es glaubst oder nicht, eines Tages fand die Frau ein kleines Bündel auf der Hintertreppe, als sie gerade den Eimer mit dem stinkenden, trüben Wasser, mit dem sie die Gaststube gewischt hatte, ausleeren wollte. Sie konnte eben noch innehalten und stellte den Eimer mit zitternden Händen ab, ganz vorsichtig, um keinen Lärm zu machen und das Kind, das mit großen Augen aus den Decken hervorlugte, womöglich zu erschrecken.
Sie hob das Bündel behutsam auf und barg es in ihren Armen. Und es war, als würde ihr Herz aufgehen und ganz leicht werden, Kummer und Gram verschwanden und sie spürte, wie Wärme und Liebe sie durchströmten. Und ein wenig Sorge.
Rasch sah sie sich um, aber an diesem frühen Morgen war es still im Dorf und niemand zu sehen. Nur ein streunender Hund schnüffelte neugierig am Hoftor, bevor er mit einem Mal innehielt, die Nackenhaare sträubte und sich grollend und mit eingezogenem Schwanz davonmachte. Erschrocken zog sie dem Kind die schmuddelige Decke ein wenig weiter ins Gesicht.
Sie rief nach ihrem Mann und hielt ihm in der warmen Küche vorsichtig das Bündel entgegen. Der Mann schob den Deckenzipfel behutsam zur Seite und hielt dann erschrocken an Atem an. Die Frau sah ihn fragend an.
„Sieh nur.“
Die Frau zuckte die Schulter, barg das Kind in ihrer Armbeuge.
„Die Augen. Hast du die Augen gesehen?“ Die Stimme des Mannes klang kratzig, als hätte er sie lange nicht benutzt.
Die Frau beugte sich herunter, ihre Hand strich sanft über den Kopf und Wange des Kindes.
„Es ist nichts.“
Das Kind sah sie unverwandt an. Nicht neugierig, nicht verängstigt, nicht freundlich, sondern durchdringend und wissend, als blicke es in ihre Seele. Die Augen, und das hatte den Mann so erschreckt, waren von einem so tiefen Schwarz, dass es ihm ein Frösteln eingejagt hatte und ihn unwillkürlich hatte zurückweichen lassen.
„Wir können es nicht behalten.“ Der Mann hatte sich abgewandt.
Die Frau sagte nichts, schlang die Arme schützend noch ein wenig enger um das Bündel.
Der Mann kratzte sich am Kopf, er sah wohl die Entschlossenheit seiner Frau. Aber wie sollte das gehen? Ein wildfremdes Kind, abgelegt auf der Hintertreppe… von wem? Und dann diese Augen, als wäre es der Teufel persönlich! Dem Mann grauste es. Aber dann sah er wieder die leuchtenden Augen seiner Frau und wie sie sich voller Liebe über das Kleine beugte und ihm vorsichtig ein wenig warme Milch einflößte.
Und so war es entschieden.
Den Leuten im Dorf erzählten sie von einer entfernten Kusine, die das Kind bei ihnen in Kost gegeben hatte, weil ihr der Mann gestorben war und sie zu arm war, um alle ihre Kinder zu versorgen. Das war nichts Ungewöhnliches in den alten Zeiten und so wunderte sich niemand weiter darüber.
Das Kind gedieh prächtig, die Frau nährte und wärmte es und schaukelte es in der hölzernen Wiege, die sie beim Müller für ein paar Biere und Schnäpse eingetauscht hatte. Und während der Müller in der Schankstube mit glasigen Augen seinen Schmerz ertränkte, sang die Frau in der warmen Küche das Kind in den Schlaf.
Und so ging die Zeit ins Land, das Frühjahr und der Sommer kamen, das Kind machte bald die ersten ungelenken Schritte an den Händen der Frau. Nur sprechen wollte es nicht. Es brabbelte nicht, jammerte nicht und weinte auch nicht. Und es lachte auch nicht. Stattdessen betrachtete es mit wissendem Blick seine Umgebung, stumm und aufmerksam. Auch schien es kaum zu schlafen, selbst wenn die Frau spät am Abend, bevor sie das Licht löschte, noch einmal in die Wiege schaute, blickte das Kind sie an.
Der Mann meinte, dass das Kind vielleicht schwachsinnig sei, weil es nicht sprechen wolle, aber die Frau zuckte nur die Schultern und meinte, man wisse ja nicht, was es erlebt habe, vielleicht habe der Schrecken ihm die Sprache genommen.
Schwachsinnig war das Kind keineswegs, als es älter wurde, ging es der Frau und dem Mann zur Hand, ohne dass man es bitten oder anlernen musste. Es wusste immer, was zu tun war, reichte das richtige Werkzeug, half beim Kochen und räumte nach dem Essen wie selbstverständlich den Tisch ab.
Die Frau war stolz auf das Kind und freute sich jeden Tag an ihm. Dem Mann aber war es unheimlich und er hielt sich oft fern von ihm. Er ging auch nicht stolz mit ihm durchs Dorf, denn die Leute fürchteten sich genauso vor dem Kind wie er es tat. Er wusste wohl, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Und oft genug blieb die Schankstube am Abend leer bis auf den einen oder anderen zufällig durchreisenden Händler oder Handwerker.
Als das Kind zu einem Jungen herangewachsen war und immer öfter das Haus verließ, auch des Nachts und für Stunden nicht gesehen wurde, geschah es immer häufiger, dass auch laut geredet wurde. Als eine Katze tot vor der Kapelle gefunden wurde. Und in einer kalten Winternacht die Scheune vom Meierhof in Flammen aufging und sie die Tiere nur mit Mühe retten konnten, aber den ganzen Wintervorrat an Futter verloren. Auf einem anderen Hof wurde ein Kalb mit zwei Köpfen geboren und zwei Tage später fanden sie drei tote Lämmer auf der Wiese, blutverschmiert und so zu gerichtet, als hätte der Leibhaftige sich persönlich an ihnen vergangen.
Die Dorfbewohner steckten die Köpfe zusammen, sahen sich ängstlich um und die Alte vom Meierhof raunte, dass sie in jener Nacht, als die Scheune gebrannt hätte, eine Gestalt gesehen hätte, schmal, ein Junge noch, kaum erwachsen. Und vor zwei Tagen wieder, als sie des Nachts noch nach der kalbenden Kuh gesehen hätte. Und sie nannte heiser einen Namen. Die Männer im Dorf sahen sich an und nickten, sagten den anderen Bescheid.
Und in der Nacht des Frühlingsneumondes rotteten sie sich zusammen, mit Sensen, Forken und Dreschflegeln, ihre Gesichter mit den wildentschlossenen Mienen von qualmenden Fackeln gespenstisch beleuchtet. Der Bauer vom Meierhof voran, hinter ihm stolpernd der Müller, kaum Herr seiner Sinne, den Knüppel in der Hand. Es wurde nichts besprochen, stumm zogen sie die Dorfstraße herunter bis vors Wirtshaus.
Und als sie sich in einem Halbkreis aufgereiht hatten, trat der Bauer vom Meierhof vor. „He, Wirt! Gib den Jungen heraus!“, rief er mit tiefer, drohender Stimme.
Das Wirtshaus lag im Dunkeln, längst schliefen der Wirt, die Frau und der Junge in der kleinen Kammer hinter der Küche.
Jetzt erhoben auch andere ihre Stimmen, schüttelte Fäuste, schlugen Sensen aneinander, rückten enger an das Haus heran. Einer hämmerte mit der Faust gegen die Tür, trat mit dem schweren Stiefel zu. Ein Dröhnen und Knurren war in der Luft, als ob wilde Tiere dort auf der Dorfstraße ihre Beute belauerten.
Schließlich erhellte ein fahler Lichtschein die vorderen Fenster, die Tür schwang auf und der Wirt erschien mit eilig übergeworfener Joppe auf der Schwelle, in der Hand einen Schürhaken.
„Was wollt ihr?“, stieß er hervor und hob drohend die Rechte. „Schert euch fort, wir haben nichts getan!“
„Du nicht, aber der Junge! Der ist mit dem Teufel im Bunde! Gib ihn heraus!“ Zustimmende Gemurmel und dann erst leise, dann immer lauter, ein drohender Chor. „Gib ihn heraus!“ „Gib ihn heraus!“
„Nie im Leben!“, hörte man plötzlich die Frau kreischen, die neben ihrem Mann auf die Schwelle getreten war. „Nie im Leben!“, wiederholte sie mit atemloser Stimme und weit aufgerissenen Augen.
Der Mob geriet in Bewegung, Fensterscheiben klirrten, weil einer einen Stein geworfen hatte. Der Wirt hob beschwichtigend die Hände, aber seine Worte waren nicht zu verstehen bei all dem Geschrei.
Und dann loderten plötzlich Flammen auf, der Müller hatte seine Fackel durch das zerschlagene Fenster geworfen. Weitere folgten, Funken setzten das alte Strohdach im Nu in Brand.
Der Wirt stand noch für einen Moment wie vom Donner gerührt in der Tür, dann folgte er seiner Frau, die im Inneren des Hauses verschwunden war. Die Männer draußen hörten sie verzweifelt den Namen des Jungen rufen, halb wahnsinnig vor Angst und Schmerz. Dann noch ein langgezogener Schrei, an dem nichts Menschliches war und der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ und danach plötzlich Stille.
Dann waren nur noch das Knacken der Flammen und das Geräusch herabfallender Balken war zu hören. Die Männer sahen sich unsicher an, wie ernüchtert. Einige wandten sich ab, einer holte einen Eimer Wasser, aber er blieb allein bei seinem hilflosen Versuch, die Flammen zu löschen.
„Das war der Junge, er hat Schuld.“, flüsterte der Müller. Die anderen murmelten Zustimmung, aber sie konnten einander nicht in die Augen sehen.
Am nächsten Tag fanden sie die verkohlten Körper des Wirts und seiner Frau zwischen den Mauerresten und den qualmenden Balken. Aber den Jungen fanden sie nicht.
Auf dem Meierhof war die Alte in dieser Nacht gestorben, vor dem Ofen sitzend, die Bibel umklammert, das Gesicht verzerrt, als wäre der Leibhaftige ihr begegnet.
***
Liest sich so weg! Prima.
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