Der Gedanke, dass sie handeln müsse, überkam Anna an einem Donnerstag. An einem schnöden Donnerstag im Herbst, der sich vordergründig in nichts von jedem anderen Donnerstag (oder Dienstag, Mittwoch oder einem anderen Wochentag, von den Sonntagen abgesehen, an denen alle paar Wochen ihre Tochter zu Besuch kam) unterschied. Ein Donnerstag ohne besondere Kennzeichen also. Anna konnte nicht sagen, ob es nicht doch Anzeichen gegeben hatte. Kleine Hinweise, jenseits ihrer Wahrnehmung. Allerdings war nicht ihre Art, etwas nicht wahrzunehmen, ganz im Gegenteil.
Sie hätte nicht behaupten mögen, dass die Erkenntnis sie wie ein Blitz getroffen hätte, so etwas passierte schon lange nicht mehr in ihrem Leben. Und dennoch, warum das plötzliche Drängen, die gefühlte Eile? Was hatte sich verändert?
Die Erkenntnis war ihr am frühen Morgen gekommen. In jener Zwischenwelt zwischen Traum und Tag, in der das Denken ohne Reglement des Verstandes seine eigenen Wege sucht. Das diffuse Licht im Zimmer stammte von der Straßenbeleuchtung, nicht von der Dämmerung, das wusste sie wohl. Ob das für die Erkenntnis eine Rolle gespielt hatte, vermochte sie nicht zu sagen.
Die Nacht war ein schwarzes Tal gewesen, ohne Träume, zumindest erinnerte sie sich nicht. Zum Glück. Es gab genug Nächte, in denen das schwarze Tal angefüllt war mit Gestalten und Ereignissen, die sie auszuhalten hatte, weil sie daraus nicht entfliehen konnte. Wissend, dass es nur Träume waren und doch darin gefangen. Nächte, in denen sie keuchend und verschwitzt aufwachte und sich im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung zwang, die Augen offen zu halten, bis die Dämmerung die Nacht hinter sich ließ.
Woher also die Erkenntnis? Nichts in ihrem Leben hatte sich geändert, jedenfalls nicht von außen betrachtet. Jahr um Jahr, Donnerstag um Donnerstag verbrachte sie es mit sich in ihrer Wohnung. Das war ihr immer genug gewesen, seit sie beschlossen hatte, dass die Welt kein Ort für sie war.
Natürlich ließ es sich nicht vermeiden, ab und an die Welt aufzusuchen, schließlich musste man sich mit so profanen Dingen wie Lebensmitteln versorgen. Und Kleidung. Einen Arzt aufsuchen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und manchmal, selten, wollte sie auch ganz bewusst in die Welt. Dann, wenn ihre Gedanken sie ließen. Und die, die sie beobachteten. Kurze Momente waren das, die sich anfühlten wie Schweben, das Denken klar, die Sinne scharf. Alles wahrnehmend.
An jenem Donnerstag also, in dem merkwürdigen Zustand zwischen Traum und Tag, war sie also plötzlich da, die Erkenntnis, handeln zu müssen. Und ein Gedanke, der neu war.
Sie würde sterben müssen. Nicht jetzt, nicht sofort. Aber irgendwann. Irgendwann stirbt schließlich jeder. Und niemand weiß um den Tag und die Stunde. Was, wenn es gerade im nächsten Augenblick…? Oder am Nachmittag? Und selbst wenn es erst im nächsten Monat, im nächsten Jahr wäre…
Natürlich war der Gedanke so neu nicht, irgendwann beschäftigt sich wohl jeder mit der eigenen Endlichkeit und dem Sterben als entfernte Möglichkeit. Spätestens dann, wenn Menschen in unserer Nähe „heimgehen“, wie es ein wenig euphemistisch heißt, als ob die Mehrheit der Gesellschaft tatsächlich noch daran glauben würde, dass wir uns alle in einem Himmel (wenn es gut läuft) wiederfinden. Und nicht in kalter Erde, zu Asche verbrannt. Nun ja, man weiß ja nie… und tröstend ist der Gedanke allemal.
Der Tod als reales Ereignis und nicht als ferne Möglichkeit… Anna lag stocksteif in ihrem schmalen Bett. Hörte ihr Herz schlagen (wie lange noch?), spürte ihren flachen, schnellen Atem.
Nicht, dass ihr der Abschied vom Leben besonders viel ausmachen würde, so dachte sie jedenfalls. So viel Leben fand in ihrem Leben ja gar nicht statt. Vielleicht wäre der Tod ja ein gar kein schlechter Tausch?
Und doch konnte sie das Leben nicht einfach so verlassen. Noch nicht.
Das Schlucken fiel ihr plötzlich schwer. Mit einem Mal war der Durst unerträglich. Und die Bettdecke eine drückende Last. Sie schlug sie beiseite, einen Moment erschrocken über die Kühle, die sie umfing. Ihre nackten Füße suchten die warmen Hausschuhe. Schon besser.
Sie tappte sie Richtung Küche, nie würde sie um diese Zeit das Licht einschalten. Nicht schon so früh die Aufmerksamkeit auf sich ziehen!
Sie füllte ein Glas mit Wasser aus dem Hahn und trat neben das Fenster. Es ging zur Straße hinaus, da musste man besonders vorsichtig sein. Wobei es keinen Unterschied machte, sie hatten ja alle Möglichkeiten.
Sie hatte sich schon geärgert, damals in eine Erdgeschoss-Wohnung gezogen zu sein. Da war der Zugang so leicht. Im ersten oder zweiten Stock hätte sie vielleicht ein wenig mehr das Gefühl von Sicherheit gehabt. Andererseits… sie warf einen Blick zur Zimmerdecke, das kleine rote Blinklicht des Feuermelders sagte ihr, dass es egal war, in welchem Stockwerk sie wohnte.
Vorsichtig schob sie die Gardine ein wenig zur Seite, lugte durch den Spalt. Nie hätte sie blickdichte Vorhänge angebracht. Oder das Rollo heruntergelassen, das machte sie nur in Ausnahmefällen, bei großer Hitze, wenn die Sonne schon vormittags unerbittlich die Küche aufheizte. Oder bei eisigem Frost, da ging sie manchmal das Risiko ein. Aber sonst vermied sie es, um sich nicht noch verdächtiger zu machen.
Ja, da waren sie. Das rote Auto. Natürlich saß niemand darin, das war auch gar nicht nötig. Sie hatten Möglichkeiten…
Das Haus gegenüber lag im Dunkeln. Wie immer um diese Zeit, schließlich konnte man aus dem Dunkeln heraus viel besser beobachten, das wusste sie selbst schließlich auch. Gleich würde das Licht in dem kleinen Fenster oben links angehen, ein Zeichen für die anderen, sich bereit zu machen.
Ein Motorroller knatterte die Straße entlang. Komisch, dachte Anna, das ist hier doch eine Wohnstraße, hier hat niemand einen Roller, wo will er nur hin?
Sie tastete nach ihrem roten Notizbuch, das auf dem Küchentisch lag. Stieß gegen den Bleistift, der kurz am Rand des Tisches verharrte und dann, bevor sie nochmal nach ihm greifen konnte, auf den Boden fiel und leise rollend in der Dunkelheit unter der Küchenbank verschwand.
Anna hielt den Atem an. Hatte das jemand gehört? Es war ihr so laut vorgekommen, wie ein Donnerschlag. Vorsicht, Vorsicht!
Sie ließ sich auf die Knie herunter, tastete nach dem Bleistift. Überlegte fieberhaft, ob sie irgendwo noch einen anderen in der Wohnung hatte. Aber keinen roten mit Radiergummi am Ende, das wusste sie. Und so einer musste es sein, nur damit konnte sie die Aufzeichnungen in dem roten Notizbuch machen. Sie ärgerte sich maßlos, dass sie beim letzten Einkauf keinen Ersatz besorgt hatte, das hätte sie doch wissen müssen! Es muss immer Ersatz da sein.
Und wenn sie ausnahmsweise den Kugelschreiber nähme, der auch auf dem Küchentisch lag? Nein, schalt sie sich, der Kugelschreiber war für Schreibsachen, die die Außenwelt betrafen. Hinweiszettel am Briefkasten, keine Werbung einzuwerfen. Einkaufszettel, Weihnachtskarten, Briefumschläge, wenn sie ab und an etwas zu verschicken hatte. Auf keinen Fall konnte sie den für das Notizbuch verwenden.
Und den schwarzen Bleistift? Der im Wohnzimmer neben der schwarzen Kladde lag? Nein, wirklich nicht. Das würde die Ordnung stören und Konsequenzen haben, die sie nicht absehen konnte. Es war schon mühsam genug, das Leben innerhalb der Regeln zu meistern. Die Regeln waren gut dafür, sonst wäre ja nur unerträgliches Chaos.
Sie tastete weiter nach dem Stift, stieß sich den Kopf am Tischbein, als sie mit der Hand weit unter die Bank zu langen versuchte. Ob sie kurz Licht machen sollte? Dazu war es noch viel zu früh. Ein verzweifeltes Schluchzen drang aus ihrer Brust, dann berührten ihre Fingerspitzen den Stift… und stießen ihn noch ein wenig weiter unter die Bank. Sie ließ sich auf den Bauch fallen und schob sich weiter in Richtung Wand. Endlich fanden ihre Finger den Stift. Grenzenlose Erleichterung durchströmte sie für einen Moment. Das Leben ging weiter!
Sie krabbelte zurück, richtete sich mühsam auf, atmete tief durch. Im Treppenhaus klappte eine Tür, kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. So früh schon? Wer um alles in der Welt… Sie riskierte einen weiteren Blick auf die Straße, obwohl sie das eigentlich gar nicht durfte, schließlich hatte sie noch keine Eintragung gemacht.
Eine dunkle Gestalt wechselte die Straßenseite, einen kleinen Rollkoffer hinter sich herzerrend, dessen Rollgeräusche sie an die Bahnfahrten in ihrer Jugend erinnerten. Der junge Mann aus dem dritten Stock. Der war ihr immer verdächtig vorgekommen. Bestimmt war auch er…
Hastig blätterte sie das Notizbuch durch, fand einen Eintrag aus dem Juli, da war er am Nachmittag, ebenfalls einen Rollkoffer hinter sich herziehend, nach Hause gekommen, aber aus der anderen Richtung… sie musste darüber nachdenken, was das bedeutete. Aber nicht jetzt.
Sie schlug eine leere Seite auf und notierte in ihrer akkuraten Schreibschrift den Sachverhalt. „4:52 Uhr – rotes Auto vor Hausnummer 7“, „5:00 Uhr – Licht oben links in Hausnummer 7“, „5:05 Uhr Motorroller stadtauswärts. Wer? Verdächtig, weiter beobachten“ (das „wer“ unterstrich sie zwei Mal mit scharfen geraden Strichen) und „5:15 Uhr – Bewohner 3. OG mit Rollkoffer Richtung Innenstadt (Bahnhof?)“.
Im Moment schien alles ruhig. Sie wandte sich ab und ließ sich auf die Küchenbank fallen. Fror in ihrem dünnen Nachthemd. Es wäre besser gewesen, einen Bademantel übergezogen zu haben. Mal wieder hatte sie etwas nicht richtig gemacht, nicht bedacht. Wie so oft, schon früher hatten das alle immer zu ihr gesagt. Ihre Mutter, der Vater sowieso, die Lehrer, denen sie es auch nicht hatte rechtmachen können. Sie seufzte, heute musste sie sich selbst sagen, wenn sie etwas nicht richtig machte. Das war manchmal schwierig, aber meistens klappte es ganz gut. Und nötig war es allemal, sonst würde sie sich womöglich gar nicht mehr anstrengen, etwas richtig zu machen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr am Herd. Kurz nach halb sechs, noch eine knappe halbe Stunde, bis ihr Wecker klingeln würde. Ob sie einfach hier sitzen bleiben konnte? Wieder warf sie einen Blick auf den Feuermelder an der Decke. Das rote Licht hatte sich nicht verändert. Von der Straße aus konnte man sie nicht sehen. Sie musste nur um kurz vor sechs schnell genug ins Schlafzimmer, um den Wecker gleich abstellen zu können, sobald er klingelte. Klingeln musste er natürlich, anders ging es nicht.
Der Gedanke, den sie beim Aufwachen gehabt hatte, kam zurück. Der Gedanke, sterben zu müssen. Und die Erkenntnis, das das bedeuten würde, dass alles, was ihr Leben ausmachte, immer noch da wäre, selbst wenn sie nicht mehr da wäre. Sie würde ihre Wohnung verlassen haben… aber die Wohnung mit allem darin wäre ja noch da. Und dann würden sie kommen und ihre geheimsten Gedanken, die sie ihr gesamtes Leben verborgen gehalten hatte, ans Licht zerren. Natürlich wusste sie, dass nichts wirklich geheim war. Es gab Dinge, die sie aus ihrem Kopf aufs Papier verbannt hatte. In schwarze Kladden, die eingeschlossen im Wohnzimmerschrank lagen. Sie tastete nach dem Schlüssel, den sie um den Hals trug. Aber den Schlüssel würden sie finden und die Kladden auch. Und darin lesen. Ihre innersten Gedanken. Vermutlich warteten sie nur darauf. Sie waren ja schon mehrfach in der Wohnung gewesen, das wusste sie. Sie hatte es gespürt, wenn sie vom Einkaufen nach Hause gekommen war. Und diese neugierige Nachbarin, die immer mal wieder klingelte und was von ihr wollte, ein Ei leihen. Oder ein bisschen Butter. Oder sie auf einen Kaffee einlud (was Anna natürlich jedes Mal ablehnte). Wer weiß, was die für Absichten hatte? Neuerdings hörte sie aus der Wohnung immer mal wieder laute Musik und Möbelrücken. Oder sie stritt mit jemandem… unsäglich diese Frau! Vermutlich war es ihre Absicht, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Und der Mieter von gegenüber, der immer so finster dreinschaute. Neulich war sie ihm bei den Mülltonnen begegnet und er hatte ihr etwas hinterhergerufen in einer Sprache, die sie nicht verstand. Freundlich hatte es nicht geklungen. Und diese Frau von irgendeinem Dienst, die letztens geklingelt und gefragt hatte, ob es ihr gut ginge und sie zu einem Besuch im Stadtteil-Café eingeladen hatte.
Die Vorstellung, dass alle diese Menschen nur danach gierten, ihre geheimsten Gedanken ans Licht zu zerren, sich darüber das Maul zerreißen würden, über sie lachen würden… die Vorstellung war so unerträglich, dass es Anna schier den Atem nahm. Und sie hatte schließlich versprochen, niemandem davon zu erzählen.
Sie zitterte und wusste nicht, ob vor Kälte oder Angst.
Niemand durfte von ihren Geheimnissen wissen. Niemand! Niemand! Das war ihr immer eingeschärft worden. Wenn du es jemandem erzählst… Niemand wird dir glauben. Und wir würden es erfahren.
Und als es in ihrem Kopf zu viele Geheimnisse wurden, hatte sie angefangen, sie aufzuschreiben. Damit sie sich nicht aus Versehen verplapperte. Doch jemandem davon erzählte. So hatte sie die Geheimnisse an einen anderen Ort geschafft, zwischen Buchseiten gebannt. Damit sie sich nicht daran erinnern musste.
Und wenn sie nun im nächsten Augenblick…?
Sie musste handeln, und zwar schnell. Nichts durfte von ihren Geheimnissen bleiben, nichts…
Kurz vor sechs, eine kleine Weile noch, bis sie ins Schlafzimmer musste, den Wecker abstellen, sobald er zu klingen begann.
Ein wenig Zeit noch, zu überlegen. Sie hörte ein Auto vorbeifahren. Waren sie das schon? Sie machte sich nicht die Mühe, nachzuschauen, es zu notieren, um es irgendwann beweisen zu können. Dass sie nicht verrückt war, wie ihre Tochter behauptete. Die sie am liebsten in eine Klinik weggesperrt hätte. Ausgerechnet ihre Tochter, die nichts von ihren Geheimnissen wusste, nichts wissen durfte. Auch an sie musste sie denken. Damit sie nie die Wahrheit ihrer Existenz erfuhr.
Nein, sie durfte die Erinnerungen jetzt nicht zurückkommen lassen. Deswegen hatte sie sie doch aufgeschrieben, damit sie nicht mehr in ihrem Kopf ihren Verstand auffraßen.
Eine fiebrige Unruhe erfasste sie. Wenn doch endlich der Wecker klingelte. Es gab ja eine Lösung. Eine wirklich sichere, eine, die ihr alle Sorgen nehmen würde. Mit der sie es allen, die es auf sie abgesehen hatten, heimzahlen konnte. Und bei der sie trotzdem nichts verriet, so wie sie es versprochen hatte. Damals, dem Vater.
Es musste nur noch der Wecker klingeln.
***
Aus dem Polizeibericht vom 29. September:
„Bei einem Wohnungsbrand am frühen Morgen ist eine Hausbewohnerin ums Leben gekommen. Als Ursache wird ein technischer Defekt oder Unachtsamkeit vermutet. Die Feuerwehr konnte ein Übergreifen des Feuers auf weitere Wohnungen verhindern, die Bewohner kamen mit dem Schrecken davon.“
Hallo Sigrid, Danke für den Text. Das kannte ich noch nicht. Wirklich toll geschrieben. Klasse! Schade, dass ich bei der Lesung nicht dabei sein kann.
Liebe Grüße Marion
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