Kapitel 3

 „Wo ist Alex?“ Trixis Stimme überschlug sich fast. Bruno zuckte die Schultern, sah sich suchend um. „Meine Güte, stehen Sie doch nicht rum!“ Eine Haarsträhne hatte sich aus dem Knoten gelöst und gab ihr ein fast verwegenes Aussehen. „Suchen Sie ihn!“ Sie erschien ihm völlig aufgelöst, er sah, wie ihre Hände zitterten und überhaupt sah sie ziemlich derangiert aus. Er entdeckte einen Schmutzfleck auf ihrer weißen Bluse, was ihn noch mehr verwunderte als alles, was gerade rundherum passierte. Sie schob die Haarsträhne aus dem Gesicht und berührte dabei ihr Ohrläppchen. Erschrocken hielt sie inne und ihm fiel auf, dass ihr Ohrring fehlte.

„Habt ihr das Schlossgespenst entdeckt oder was?“ Ohne ihm eine Antwort zu geben, rauschte sie zurück ins Schloss, ließ aber die Tür offen. Kurz darauf hörte er wieder ihre und Pauls erregten Stimmen von drinnen.

Alex tauchte wie aus dem Nichts auf. Er erschien ein wenig verlegen und außerdem war er klatschnass. „Na, Alex, haste was ausgefressen?“ Brunos Frage war eher scherzhaft gemeint, aber der Junge schrak regelrecht zusammen. „N…N… Nein“, stotterte er und wich seinem Blick aus.

Bevor Bruno fragen konnte, warum Alex anscheinend im dicksten Regen herumgelaufen war, erschien Paul an der Tür. Mit irrem Blick und das halblange Haar zerwühlt, hatte Pauls sowieso schon etwas ungepflegte Erscheinung Ähnlichkeit mit Klaus Kinski in seinen besten Zeiten.

„Bruno, Alex… das Bild ist weg!“ Ein Speichelfaden rann über sein Kinn, ungeduldig wischte er ihn mit dem Handrücken weg. Bruno war völlig verblüfft. Das Bild war weg? Welches Bild? Und warum regte sich Paul so auf? Schließlich hatte er doch selbst gesagt, dass eh nur wertloser Heimatkitsch im Schloss hing.

„Moment, Moment.“ Bruno hob besänftigend die Hand. „Beruhig dich doch erstmal. Was ist denn eigentlich los?“ Aber Paul war schon wieder verschwunden. Er sah Alex an, aber der starrte auf seine Schuhe, als gäbe es dort was zu entdecken. Wieder hörte er Trixi Hammermeister nach ihm rufen.

Bruno schob entschlossen seine Mütze zurück und betrat den Vorraum.

Eine Viertelstunde später starrte er immer noch fassungslos auf die kahle Stelle an der Wand zwischen all den Heimatkitsch-Werken. Fassungslos nicht wegen der Tatsache, dass eins der Bilder verschwunden war, sondern deswegen, weil sich sowohl Trixi Hammermeister als auch Paul immer noch völlig hysterisch aufführten. Die sonst stets korrekte Sekretärin hatte sich auf einen Hocker fallen lassen und murmelte unablässig so etwas wie „Und das ausgerechnet jetzt!“ vor sich hin, während sie hektisch an einem Grasfleck an ihren Wildlederpumps rieb, den sie aber eher verteilte als entfernte.

„Heute Mittag war es noch da, ich verstehe es einfach nicht!“ Paul lief händeringend und fluchend von einem Ende des Raumes zum anderen. Alex lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Fenster und sagte gar nichts.

„Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?“ Bruno fand seine Idee durchaus vernünftig und sinnvoll, schließlich handelte es sich augenscheinlich um einen Diebstahl. Paul blieb wie angewurzelt stehen und Trixi gab einen erstickten Schrei von sich. „Nein!“, tönten beide wie aus einem Mund.

„Nein?“

„Nein!“

„Ja, aber warum denn nicht? Immerhin…“ Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, Trixi Hammermeister hatte endlich aufgehört, an ihrem Schuh zu reiben und unterbrach ihn mit einer Stimme, in der blankes Entsetzen schwang.

„Es geht nicht.“

„Es geht nicht?“ Er merkte selbst, wie dämlich das klang, aber ihm fiel beim besten Willen nichts anderes ein, was er hätte sagen können. „Aber warum nicht?“

„Die Ausstellung“, flüsterte Trixi den Tränen nahe. „Wir können die Ausstellung vergessen, wenn bekannt wird, dass hier etwas gestohlen worden ist. Die Sponsoren…“ Nun ja, die Sponsoren würden wohl kaum bereit sein, ihr Geld für eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit einigen wirklich wertvollen Stücken herauszurücken, wenn bekannt wurde, dass die Exponate womöglich nicht sicher wären. Bruno hatte zwar keine Ahnung von Kunst, aber er wusste, dass der Verein seit Monaten mit den Vorbereitungen beschäftigt war, die Eröffnung sollte Mitte Mai erfolgen und die Ausstellung würde den ganzen Sommer über zu sehen sein und dafür sorgen, dass eine Menge kunstinteressierter Besucher Geld in die Kasse des Vereins spülten. Die Einnahmen wurden dringend für die weitere Renovierung des Schlosses und nicht zuletzt – und das erklärte zumindest teilweise Trixis hysterische Reaktion –  zur Sicherung ihres Gehalts gebraucht. Ihn betraf das zum Glück nicht, er bekam sein Geld von der Stadt. Paul bezog sein Gehalt ebenfalls aus dem Gemeindesäckel, wieso also regte er sich so auf, dass jemand einen dieser Heimatschinken gestohlen hatte? Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er sich an Bruno wandte. „Wer, verdammt noch mal, klaut ausgerechnet dieses Bild?“

Eine gute Frage, wie Bruno fand. Die bessere war, wie der Dieb es geschafft hatte. Das Schlossgelände war eingezäunt, alle Tore normalerweise verschlossen, ebenso wie die Türen, durch die man ins Gebäude gelangte. Wie also war der Dieb hinein und wieder herausgekommen? Das perfekte Rätsel des geschlossenen Raumes. Einen Moment war er irritiert darüber, wie sich dieser Begriff in seine Gedanken geschlichen hatte, aber dann sah er seine Frau mit einem ihrer unzähligen Kriminalromane vor sich, wie sie ihm die Handlung erklärt hatte und von ihm verlangt hatte, zu erraten, wer denn der Mörder war. Seufzend verdrängte er die Erinnerungen, seine liebe Herta lag seit drei Jahren auf dem Friedhof, sein Leben war nicht mehr dasselbe seitdem.

„Niemand konnte hinein.“ Trixi hatte anscheinend ähnliche Gedankengänge verfolgt. „Es sei denn“, fuhr sie fort und durchbohrte Bruno mit stechendem Blick, „Sie haben es versäumt, dass Tor abzuschließen, nachdem der Wagen mit den Pflanzen wieder weg war.“

Es war eine bodenlose Frechheit, dass sie ihm das unterstellte, er wusste ganz genau, dass er das Tor verschlossen hatte, aber beweisen konnte er es natürlich nicht.

„Und wie wäre der Dieb dann ins Schloss gelangt?“, fragte er um ein wenig von der Unterstellung abzulenken.

Die Ratlosigkeit stand den Anwesenden ins Gesicht geschrieben.

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