„Am heutigen 17. Mai 2100 erkläre ich das neue Lipperländer Dorf für eröffnet!“ Der nordrhein-westfälische Kulturminister, ein in Ehren ergrauter, altgedienter Fahrensmann der Landespolitik, im Herbst seiner Verantwortung auf diesem Posten angekommen, zerschnitt das grün-weiß-rote Band mit energischer Geste.

‚Immer diese überlieferten Rituale‘ Daria schmunzelte, während sie sich beeilte, das Band aus dem Staub vor den Ministerfüßen zu entfernen, bevor sich noch jemand aus der angereisten Entourage aus Kultur- und Museumsleuten, Planern und Geldgebern darin verheddern konnte.

Ein hoher blauer Himmel spannte sich über die liebliche lippische Hügellandschaft und obwohl es erst Mai war, war bereits jegliche Feuchtigkeit aus dem Boden gewichen. Daria warf einen schnellen Blick auf die aktuellen Daten. Der UV-Wert im Grenzbereich, Ozon drüber, Regen und Abkühlung – natürlich – nicht in Sicht. Früher, so hatte man es ihr erzählt, hätten die Kinder im Winter so auf den Schnee gewartet, wie man heute den seltenen Regen herbeisehnte.

Daria war zuständig für das Lipperländer Dorf, das einer Neubau-Siedlung im beginnenden 21. Jahrhundert nachempfunden war, als sich die Menschen noch großzügige Einfamilienhäuser leisten konnten. Das war die Zeit vor den Verwerfungen, vor den Energiekrisen und den Ressourcenkriegen, die danach ein halbes Jahrhundert lang die Welt in Atem gehalten hatten, eine schlimme Zeit, die Spuren hinterlassen hatte bis heute.

Sie eilte die breite Zufahrtsstraße entlang, original getreu mit einseitigem, schmalem Radweg, wie es damals üblich gewesen war. Das Dorf selbst bestand aus einem knappen Dutzend gleichförmiger, zweigeschossiger Würfel mit flachen Walmdächern und bodentiefen Fenstern.

 Keine Keller, zu aufwändig und wozu auch? Man vermisste sie erst, als es während der Ressourcenkriege zu stundenweisen Stromabschaltungen gekommen war und es keine kühlen Räume mehr gab, in denen man Lebensmittel hätte lagern können. Nicht nur deswegen war dieser Baustil ab den Dreißigerjahren schnell wieder aus der Mode gekommen.

Für den Ministerbesuch war natürlich alles aufs Feinste herausgeputzt worden. Die Rasenflächen getrimmt, einige hatte man sogar bewässert, so dass sie frisch grün aussahen. 

Die weißverputzten Häuser gleißten in der Sonne, Daria hatte beinahe Mitleid mit dem Minister, dem schon bei der Rede der Schweiß auf der Stirn gestanden hatte, sicher nicht aus Nervosität. Aber gut, er hatte es so gewollt, es war sein Job. Daria hatte nichts mit Politik am Hut, wozu auch? Sie machte ihren Job, um den Rest sollten sich andere kümmern.

Die meisten Häuser waren mit Sichtschutzzäunen umgeben, wie sie damals in Mode gewesen waren. Mannshohe Stabgitter mit durchgezogenen Plastikbahnen, steingefüllte Gabionen oder Holzplanken, manchmal mit Sträuchern dazwischen. Im Museumsdepot lagerten noch einige Rollen Plastikbahnen für die „Klopapierzäune“, wie sie von den Kollegen scherzhaft genannt wurden, heutzutage waren sie nur noch schwer zu bekommen, höchstens noch aus Altbeständen, hergestellt wurden sie schon lange nicht mehr, das wäre ja ein Wahnsinn gewesen.

Daria betrat den für den Ministerbesuch ausgewählten Garten und sah sich noch einmal prüfend um. Alles soweit in Ordnung, kein grüner Halm in den Schotterflächen, die die Hausbesitzer damals der Bequemlichkeit wegen bevorzugt hatten, die aber so viel Hitze speicherten, dass man auf der Terrasse des Hauses das Gefühl hatte, sich neben einem Grillrost aufzuhalten. Der arme Minister!

Man hatte sogar ausnahmsweise den Pool befüllt, normalerweise war er mit einem Gewebe abgedeckt, das einer Wasserfläche ähnelte, was für den Normalbetrieb völlig ausreichte. Aber nicht heute.

Das Museum hatte das leerstehende Haus so übernommen, wie man es vorgefunden hatte, nachdem sein letzter Besitzer verarmt und ohne Erben verstorben war, von der Einrichtung war nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Mühselig hatte man neue Einrichtungsgegenstände zusammengesammelt, gar nicht so einfach heutzutage, wo möglichst alles benutzt wurde, solange es ging und dann recycelt wurde. Natürlich funktionierte keins der vielen Elektrogeräte, weder der Fernseher, noch die riesige Kochinsel im Küchenbereich oder der große Standkühlschrank. Aber man konnte sich einen guten Eindruck über das Leben in solchen Wohnquartieren zur damaligen Zeit verschaffen.

In der kommenden Woche sollte der reguläre Besucherbetrieb starten, Daria sah sie schon vor sich: die staunenden Kinder, die solche großen Häuser für zwei, drei Menschen überhaupt nicht kannten und sich nicht vorstellen konnten, dass eine Familie über so viel Wohnraum nur für sich verfügen konnte. Sie würden sich mit großen Augen vorsichtig dem Pool nähern, vielleicht hatten ihre Großeltern ihnen Geschichten von früher erzählt.

Die Entourage näherte sich dem zur Besichtigung ausgewählten Grundstück. Der Minister sehnte sich nach Schatten und einem kühlen Bier aus der Region, ahnte aber, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sein würde. Der einzige Trost war das Highlight, das ihm der Museumsleiter für sein Kommen in die Hand versprochen hatte. Was für ein Angebot! Er erinnerte sich noch gut an seine Kindheit, als er mit dem Großvater einige Male… Nur deshalb hatte er diesem eher unwichtigen und lästigen Termin überhaupt zugestimmt. Und nur deswegen würde er sich für eine weitere Finanzierung des ewig klammen Museums aussprechen…

Der Museumsleiter sah sich verstohlen um. Es war gar nicht so einfach gewesen, aus der Gruppe zu verschwinden. Aber im Haus hatte Daria die Führung übernommen und er hatte seinem Assistenten etwas von einem dringenden Videocall erzählt. Viel Zeit hatte er nicht, aber es war die einzige Chance, das Versprechen, das er dem Minister gegeben hatte, einzulösen. Und wie wichtig dessen Besuch gewesen war, konnte man aktuell schon an den Gästezahlen im museumseigenen Metaverse sehen, die erfreulich hoch waren. Er selbst hatte seinen Avatar auf „autoplay“ gestellt, um  zu einem der Häuser am anderen Ende der Siedlung zu hasten, in seiner Hand den klobigen Funkschlüssel, der zum einzigen authentischen Fahrzeug gehörte, das das Museum als besonderen Anziehungspunkt für die Besucher erworben hatte. Es gab nicht mehr viele dieser Oldtimer und obwohl der knappe Treibstoff streng rationiert war, waren die Fahrzeuge heiß begehrt und die seltenen Ausfahrten, die den Sammlern genehmigt wurden, waren wahre Publikumsmagnete. Und wenn – was selten genug geschah – eines dieser Ungetüme mal zwischen all den surrenden und schnurrenden Elektrowägelchen und -karren unterwegs war, blieben die Menschen staunend stehen, stießen andere an, wiesen mit dem Finger in die entsprechende Richtung.

Fast ehrfürchtig strich er mit der Hand über das kühle Blech. Und obwohl er natürlich diese Verschwendung von Material und Ressourcen als unangemessen und verachtenswert verurteilte, konnte er seine Bewunderung für so einen Technikungetüm doch nicht ganz unterdrücken. ‚War schon geil‘, dachte er und ein kleines bisschen wünschte er sich, die Zeit damals erlebt zu haben, als die Menschen zwar wussten, dass es den Klimawandel gab, ihn aber weitestgehend ignorierten, bis… nun ja, das war ein anderes Thema, jetzt hieß es erst einmal, den Wagen in Gang zu bekommen und ihn aus dem Carport zu bugsieren, bevor die Ministerdelegation das Haus wieder verließ und jedermann in Umkreis von zwei Kilometern den dröhnenden Diesel hören würde. Eile war geboten.

Natürlich war es nicht erlaubt, das Fahrzeug zu bewegen, es war ein reines Schau-Objekt, aber es gab ein paar Tüftler unter den Museumskollegen, die das nicht interessierte und die es sich nicht nehmen ließen, ab und an heimlich eine Runde damit übers Museumsgelände zu drehen. Der Museumsleiter hatte sie irgendwann erwischt, es aber bei einer Ermahnung belassen und seither großzügig und nicht ohne Neid über das heimliche verbotene Treiben seiner Mitarbeiter hinweggesehen, wohl wissend, dass es eines Tages hilfreich sein konnte. Heute war dieser Tag.

Das Museum benötigte dringend weitere Mittel, die Eintrittsgelder reichten nicht mal ansatzweise, um auch nur die laufenden Kosten zu tragen, da musste man eben auch mal zu unorthodoxen Methoden greifen, um den Erhalt des Museums zu sichern. Eine Spritztour später am Abend mit dem Minister in einem 80 Jahre alten SUV-Ungetüm war da genau das Richtige. Dafür musste er den Wagen jetzt aus dem Dorf schaffen, später würden das die Überwachungssensoren unmöglich machen.

Der Museumsleiter betätigte den Schlüssel und tatsächlich sprang die Verriegelung mit einem satten Ploppen auf. Geschafft!

Mit feuchten Händen schwang er sich hinter das Steuer, fast wäre er am Trittbrett abgerutscht. Was für ein Koloss! Er sah sich suchend um, irgendwo musste doch so eine Art Startknopf sein… ah, da! Vorsichtig drückte er ein wenig mit dem Zeigefinger auf die matte Fläche, auf der gut lesbar „Start“ stand. Nichts passierte. Noch einmal – mit etwas mehr Kraft jetzt. Der Museumsdirektor hielt den Atem an. Ob er gerade seinen Job riskierte? Der Motor sprang so unvermittelt an, dass er fast aufgeschrien hätte. Und wie laut das war!   

Und jetzt? Hätte er sich doch nur ein Erklärvideo angesehen… Neben ihm befand sich eine Art Mittelkonsole mit einem Regler mit Zahlen und einem „R“ auf dem kugelförmigen Kopf, eine Art Joystick, so schien es ihm. Der Wagen musste ein Schaltgetriebe haben, auch das noch! Da war doch auch noch was mit diesen verschiedenen Pedalen im Fußraum zu tun. Auf was hatte er sich nur eingelassen? Und alles nur für die Museumsfinanzen…

Ziemlich verzweifelt und wütend trat er wahllos auf ein Pedal und rammte den Schaltknüppel nach vorne, worauf dem Getriebe ein mörderisches Kreischen entfuhr und der Wagen einen gewaltigen Satz nach vorne tat… mitten hinein in die hölzerne Carportrückseite, die, von der ewigen Hitze und Trockenheit angegriffen, mit einem müden  Aufseufzen einfach nachgab und dem Vehikel freie Fahrt gewährte, allerdings nur wenige Meter, dann versenkte sich die blecherne Schnauze des SUV in die Reihe wackersteingefüllter Gabionen, die den Garten begrenzte. Der Motor gab ein letztes Röcheln von sich, bevor er endgültig erstarb. Stattdessen erhob sich ein vielstimmiges, ohrenbetäubendes Piepen und Pfeifen, als alle Warnsysteme und die Diebstahlsicherung gleichzeitig ansprangen.

Der Museumsdirektor hielt sich die Ohren zu und versuchte, dem Höllenfahrzeug zu entkommen, aber die Tür klemmte. Oder hatte sich verriegelt oder was auch immer. Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Und seinen Job war er ganz sicher los…

Mit einem Mal erstarben alle Geräusche, stattdessen war nur ein leises „Ping, ping“ zu hören. Und Stimmen und Beifall aus dem Off. Der Direktor sah sich verunsichert um und entdeckte den stecknadelgroßen Kopf einer Kamera über sich. Und noch eine seitlich unten am Armaturenbrett… Froschperspektive, auch das noch! Er zog unwillkürlich den Bauch ein und hob das Kinn. In seinem Gesichtsfeld erschien eine Minidrohne wie ein lästiges Insekt. Und natürlich gab es am Haus und im Carport Kameras. Er hatte das Überwachungskonzept schließlich selbst abgesegnet. Aber er hatte gehofft, dass alle Augen auf den Minister gerichtet sein würden.

Die Autotür wurde geöffnet. Daria, ausgerechnet… ihm blieb auch nichts erspart!

„Nun, Herr Direktor, wollen Sie den Minister noch verabschieden?“

Ein paar Stunden später träumte ein müder, gereizter, älterer Herr bei einem kalten Pils aus der Region von der Spritztour mit einem SUV, die ihm verwehrt geblieben war, was er höchst bedauerlich fand. Er würde über die weitere Finanzierung des Museums noch einmal nachdenken müssen nach diesem PR-Desaster.

Im Museum gingen die letzten Lichter aus, Daria machte sich bereit für die Nacht, ihr letzter Gedanke, bevor sie sich in den Ruhe- bzw. Auflade-Modus versetzte, war, dass man sich nicht über den Niedergang der Menschheit und ihr Unvermögen wundern musste, solange sie durch solche Exemplare wie den Museumsdirektor vertreten wurde.